Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Grausamkeit des Urteils zum Ausdruck: Warum muss das Leben eines unschuldigen Kindes durch diese brutale Hand enden?! Und im nächsten Satz hallt das Verlangen wider, das unschuldige Blut zu rächen, das Blut der Unschuldigen, welches dort vergossen wurde. Natürlich konnte ich damals die volle Bedeutung ihrer Worte nicht erfassen; erst sehr viel später, als ich mit der jüdischen Tradition vertrauter wurde, der Sprache des Gebets, erkannte ich in ihren Worten den Vers, mit dem die Betenden Gott anrufen, das Blut der Unschuldigen zu rächen. Es scheint mir, dass in diesem Satz der Ruf nach Gerechtigkeit mitschwingt, Gerechtigkeit auf einer Meta-Ebene, die über den persönlichen Tod eines Familienmitglieds hinausgeht und sich in dieser ungeheuerlichen Ordnung des alles beherrschenden Großen Todes entfaltet, gegen die man nicht auf direktem Wege angehen kann. Nur indem sie diese Realität mit mir personifizierte – dem kleinen Jungen, der durch den unerbittlichen Entscheid verurteilt war, in jener Nacht zu sterben –, konnte sie diese Worte äußern, den Ruf nach Rache, nach einem gerechten Urteil, das aus einer anderen Konstellation von Geschichte, Denken, Kultur und Religion hervorgebracht werden muss. Dieser Vers hallt dauerhaft in mir wider: »Hashem jikom dam nekiim« – »Gott möge das Blut der Unschuldigen rächen.«
Aber dies war eigentlich eine Anomalie, eine äußerst seltene Abweichung innerhalb der Ordnung. Innerhalb der Ordnung, wie ich sie erinnere, wie ich sie unerbittlich in der Erinnerung erfahre. Es ist die Ordnung des unabänderlichen Gesetzes des Großen Todes, eine Unabänderlichkeit, die offenbar in sich selbst eingeschlossen ist, jenseits derer nichts ist. Und selbst, wenn da so etwas wie ein Funken von Aufbegehren, von Illusion, von Hoffnung ist, treiben diese Ahnungen nur hier und da vorbei wie Stäubchen auf der Oberfläche des düsteren Bewusstseins, das uns eigen ist. Und uns bleibt, auch später, wie jene in sich selbst eingeschlossene Ordnung.
Dennoch, es gab auch andere Botschaften, andere Funken, die sich erhalten haben, einige als künstlerische Schöpfung. So wie der Brief meiner Mutter blieben auch drei andere Zeugnisse erhalten: ähnlich, verwandt, aber doch von ganz anderer Art. Ich spreche von drei Gedichten, anscheinend den letzten einer unbekannten Dichterin um die zwanzig (ihr Alter kann aus einem der Gedichte abgeleitet werden), die der Nacht der großen Vernichtung entgingen, der Vernichtung all derer, die mit demselben Transport wie ich in Auschwitz eintrafen. In jener Nacht der gewaltigen Feuersbrunst zog eine junge Frau, die am Eingang der Gaskammern stand, in letzter Minute ein Bündel loser Blätter hervor und übergab sie einem der Kapos, dessen Aufgabe es war, sicherzustellen, dass diese »Sonderaktion« »ohne Störungen« vonstattenging. Am nächsten Tag gab er meinem Vater die Seiten, denn er wusste, dass er Kontakte zum Lager der tschechischen Juden hatte. Zunächst dachte mein Vater, es seien die letzten Grüße meiner Mutter. Erst als er das Bündel öffnete, entdeckte er, dass er drei Gedichte in Händen hielt, die einzigen, die im Familienlager der Juden aus Theresienstadt geschrieben wurden und die Flammen von Auschwitz überlebten. Das erste trägt den Titel: »Wir, die Toten, klagen an!«
6
Drei Gedichte an der Schwelle
der Gaskammer
Die drei Gedichte waren auf Tschechisch auf dünnem, verblasstem Briefpapier geschrieben. Das erste trägt die Botschaft der drei von mir vorhin beschriebenen Episoden in sich und verleiht ihnen eine eigene schöpferische Intensität: die letzten Worte der Verurteilten während ihrer öffentlichen Hinrichtung; das sarkastische Vergnügen an der Vision einer zukünftigen Geschichte, wie sie die Verdammten im Krankenbau erdachten; und der Satz im Brief meiner Mutter, in dem sie nach Rache für das Blut der Unschuldigen rief. Aber die Gedichte gehen auch darüber hinaus, weil sich in ihnen der einzige gleißende Splitter erhalten hat, der von einem großartigen künstlerischen Werk gerettet wurde, das an diesem Ort des Verderbens existierte und vernichtet wurde.
Das erste Gedicht – »Wir, die Toten, klagen an!« – evoziert eine apokalyptische Szene der endlosen Kolonnen von Toten, ihrer Knochen und Asche, ein riesiges, beständig wachsendes Heer in den Eingeweiden der Erde. In einer prophetischen Vision, die mit einer schauerlichen Auferstehung der Toten einhergeht, wird das Verlangen nach Gerechtigkeit und der
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