Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Szene? Zunächst, wieder, ein Meer von Menschen, arrangiert in U-Form. Reihen über Reihen von Häftlingen, und vorne der Galgen, mehrere Galgen, eine Plattform mit Galgen, auf denen einige SS -Männer standen. Und die Verurteilten. Stille. Hier erinnere ich die Stille. Es bringt mich für einen Augenblick zurück zur vorigen Szene: Wenn ich jene Szene in meiner Erinnerung abrufe und sie mit dieser verbinde, ist es die große Stummheit, die entsetzliche unglaubliche Stille, und in beiden Fällen das Bild des Strafens, jener Foltertanz und die dreschenden Spazierstöcke, als ob es lautlos vor sich gegangen wäre, in einer überwältigenden Stille, die alles umschloss und alles beherrschte. Es war Stille. Ich erinnere sie gut.
Auch hier die angespannte Stille, aus der heraus der bekannte Befehl kam, sie plötzlich durchschnitt: »Mützeeeen ab!«, und in diesem Augenblick erstrahlte das gesamte Gelände im Licht Tausender kahler Schädel. Die Häftlinge – in einer Bewegung, die ihnen durch zahllose Schikanen eingedrillt worden war – zogen ihre Mützen alle gleichzeitig ab und erzeugten eine Art gewaltigen Lichthof, der die ersten Flimmer der Dämmerung erleuchtete. Und wieder – Stille. Dann wurden die Gefangenen zu den Galgen geführt.
Ich erinnere nicht mehr, ob ein Urteil verlesen wurde, ob Worte fielen. Was ich aber erinnere, ist der Akt, als sie zu den Galgen geführt wurden, das Knoten der Seile, das Legen der Schlingen um ihren Hals, und ihr Aufschrei, der das Schweigen zerriss: »Za Stalina! Za rodinu!« – »Für Stalin! Für das Vaterland!«
Ich erinnere mich, dass ich, als wir zu diesem letzten Akt kamen, meinen Blick auf den Boden senkte und mich weigerte zu sehen. Mein zweiter Gedanke war: Du musst hinsehen! Du musst das in dein Herz eingravieren! Du musst es erinnern und du musst Rache nehmen, wenn die Zeit der Gerechtigkeit und Vergeltung gekommen ist. So blickte ich also geradeaus und war für die gesamte Dauer der Zeremonie dabei: die letzten Schreie der Verurteilten und die Stille, die wieder herrschte, als die Körper in den Schlingen zuckten. Dann gingen alle auseinander.
Dieser Gedanke an die Vollstreckung der Gerechtigkeit überstieg das unabänderliche Gesetz, das an diesem Ort herrschte. Als ob jene Schreie auch die Gegenwart jener Zeit zerrissen hätten und eine neue Dimension enthüllten, eine utopische, aber doch für einen Augenblick eine konkrete Wirklichkeit, weil jeder es gehört hatte, jeder hatte zugehört, weil jeder über Vergeltung nachsann, die dort bei ihrem Namen genannt wurde. Und das habe ich verinnerlicht.
»Die Lösung der deutschen Frage«
Erneut taste ich meine Erinnerung ab und wundere mich nun, ob wir andere Manifestationen dieses Gedankens in die Gegenwart hereinbrechen sahen, andere Arten des Protests, die mit dem unabänderlichen Gesetz auf anderen Wegen rangen: etwa Protest wie im satirischen Kabarett in den Jugendbaracken des Familienlagers, als wir unverrückbar an den Werten, die wir aus dem humanistischen Erbe mit uns gebracht hatten, festhielten. Aber das ist eine andere Sache. Damals war das keine durchdachte, politische Auseinandersetzung, um das unabänderliche Gesetz und seine Herrschaft zu unterwandern, auch nicht ein Sprung über das Ende seiner Herrschaft hinaus, das ohnehin niemand ernsthaft für möglich hielt. Aber in jenem Moment des offenen Protests und des Schreis des letzten Aufbegehrens, war es, als ob zumindest ich mich auf die Möglichkeit des Endes vorbereiten wollte. Natürlich galt das nur für einen kurzen Moment, ein Spiel, das mich mitgerissen hatte, aber der Grund war real: das Verlangen, Vergeltung zu üben, das Verlangen, sich eine andere Realität vorzustellen, die danach kommen würde. Für einen Augenblick war sie greifbar.
Im Grunde war es eine sehr kurze Episode, nur einige Augenblicke lang, aber sie blieb meiner Erinnerung eingraviert, mit all den äußeren Symbolen der SS-Männer auf der Plattform, den Häftlingen, dem ganzen Zeremoniell. Dennoch, der Kernpunkt jener Erfahrung dort blieb jener Aufschrei, jenes Aufbegehren, und die Gedanken des Jungen, der seinen Blick auf das Geschehen richtete.
Aber ich kehre zur Frage zurück: Gab es andere Momente wie diese, ähnliche Manifestationen, die ich erinnere und die das unabänderliche Gesetz unterlaufen? Auf höchst merkwürdige Weise führt mich diese Suche in den Tiefen der Erinnerung – so markant und selektiv wie diese Bilder der Metropole offenbar in meinem
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