Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Bewusstsein hausen – zu einer anderen prägenden Erfahrung: einem Zusammentreffen mit dem humanistischen Erbe der westlichen Kultur. Ich erkrankte damals an Diphtherie, die tödlich zu verlaufen schien, und wurde in den Krankenbau gebracht, zusammen mit einigen anderen schwer kranken Häftlingen – eine Erfahrung oder Episode, die ich bereits beschrieb.
Von den anderen Häftlingen erinnere ich mich gut an einen jungen Mann mit einem hageren Gesicht und Bartstoppeln, er hieß Herbert, und an einen Freund von ihm. Es war Herbert, der mir eine Ausgabe von Dostojewskis Schuld und Sühne gab, Herbert, der mir erklärte, wer Beethoven war und Goethe und Shakespeare, und von der Kultur erzählte, die sie uns hinterlassen hatten – den europäischen Humanismus. Gemeinsam mit einigen seiner Mitleidenden (und ich weiß nicht, ob sie je dort herauskamen) lenkte sich Herbert durch intellektuelle Zerstreuungen von den langen Stunden und Tagen im Krankenbau ab. Eine Sache, die ich gut erinnere, obgleich ich die Bedeutung damals nicht wirklich verstand, war ein Spiel, das darin bestand, Ideen für die »Lösung der deutschen Frage« vorzuschlagen. Der Begriff »die Endlösung der Judenfrage« war damals noch nicht bekannt, das Konzept der »Lösung der Judenfrage« war hingegen nur allzu bekannt. Jenes Spiel um die »Lösung der deutschen Frage« war offensichtlich eine Paraphrase, eine improvisierte Verkehrung der Schicksale und – ob ich es zugeben will oder nicht – ein Versuch, Vergeltung zu üben, Geschichte zur Gerechtigkeit zu führen und vielleicht die »Lösung« zu ahnden, die wir heute als den Versuch bezeichnen, die »Endlösung« durchzuführen, die völlige Vernichtung des jüdischen Volkes, die sich dort Tag um Tag aufs Neue vor unseren Augen ereignete.
Die vorgeschlagenen Lösungen waren vielfältig. Ich erinnere klar nur eine von ihnen. Das Interessante ist, dass es keine naheliegende Lösung war, nämlich alle Angehörigen der deutschen Nation zu den Anlagen zu bringen, wo sich »die Lösung der jüdischen Frage« abspielte: Maß für Maß. Diese bestimmte Lösung war wohl die einzige, die nicht vorgeschlagen wurde. Nicht die Auschwitz-Lösung, nicht die Lösung der Vernichtung in Gaskammern, nicht eine Lösung der Verbrennung. Die Lösung, an die ich mich gut erinnere – es gab weitere dieser Art –, bestand darin, alle Frauen, Kinder und Alten auf Schiffe zu schaffen und sie mitten im Ozean zu versenken. Die Männer waren für die Art von Sklavenarbeit vorgesehen, deren Zeuge auch wir wurden. Daran erinnere ich mich, ebenso wie an den Ausdruck »die Lösung der deutschen Frage« und das sarkastische Amüsement, das der breiten Auswahl anderer Lösungen entsprang, die ich, aus welchem Grund auch immer, nicht konkret erinnere.
Wenn ich nun frage: Warum nicht Auschwitz? Warum nicht dasselbe Auschwitz, dieselbe Lösung?, kann ich nur eine Vermutung anstellen: Wahrscheinlich spiegelt sich in dieser Aversion eine Art Abscheu, mit dem Akt des Mordens in Berührung zu kommen, dem Akt der Vollstreckung, dem Akt der Vernichtung, und bedeutete für uns damals einen Weg, diese verbrecherische Nation, die für »die Lösung der jüdischen Frage« in Auschwitz verantwortlich ist, anzuprangern; sie zu verurteilen, sie aus den Nationen der Welt zu verbannen und zu wünschen, sie möge in den Tiefen des Ozeans verschwinden. Das war der Kontrast, der aus diesem bitteren Spiel zu erwachsen schien, aus dieser Vorstellung, diesem Sehnen, dass Gerechtigkeit getan werde, und vielleicht auch danach, Rache zu nehmen. Ja, daran erinnere ich mich.
»Wir, die Toten, klagen an!«
Ich fahre fort zu suchen, und ich finde das Motiv der Vergeltung – das Motiv des Verlangens nach Gerechtigkeit, dass Gerechtigkeit zu gegebener Zeit ihren Lauf nehmen würde – auch in anderen Botschaften: in Dokumenten, die sich von diesem Ort erhalten haben und an denen ich direkt beteiligt war, mit denen ich zu tun hatte, während ich noch in dieser Metropole war, und die ich an meinem Körper in die Nachkriegswelt trug. Eines war der Abschiedsbrief, den meine Mutter in jener Nacht des 30. Juni 1944 schrieb, als wir dachten, wir würden die endgültige Liquidierung des Lagers nicht überleben. Sie schrieb einen Abschiedsbrief an meinen Vater: einen wunderbaren Brief, der sich heute, nachdem er über die Jahre von meinem Vater verwahrt worden war, im Archiv von Yad Vashem befindet. In einem Satz dieses Briefes bringt sie ihren Aufschrei über die
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