Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
für das unfassbare Rätsel des entschiedenen Weggehens und des Verschwindens jenseits des Verlassens dieses Ortes bot: Mutter trug den Embryo meines Bruders in sich, ein Auschwitz-Embryo, von ihrem Treffen mit Vater dort, und sie war entschlossen, wenigstens ihn mit sich zu nehmen, wenn wir beide bleiben und umkommen sollten.
Sie ertrug die Qualen der Reise, die zermürbende Arbeit, und wundersamerweise und dank des Geschicks und der hingebungsvollen Hilfe ihrer Freundinnen schaffte sie es bis zur Entbindung. Der Junge wurde im Lager Stutthof geboren, und ihre Freundinnen und vor allem die Pflegerinnen, die im Krankenbau arbeiteten, versprachen ihr, das Neugeborene zu schützen, solange kein Notfall eintrat und solange keiner des herrschenden Regimes eintrat, namentlich die SS -Leute. Das Kind war gesund und schrie wie ein gesunder Säugling, und die SS -Leute, die sich bald näherten, entschieden über sein Leben. Die Pflegerinnen setzten diesem winzigen Leben ein Ende. Die große Unabänderlichkeit des Gesetzes des Großen Todes, die Auschwitz beherrschte – in der sich ein Riss aufgetan zu haben schien: die Eisenbahnschienen, die in die Entfernung wichen, und die Waggons, die die Überreste unseres Lagers in sich trugen, darunter meine Mutter, wie ein Riss der Hoffnung zu überleben, die Mauer des unabänderlichen Gesetzes zu durchbrechen –, diese unerbittliche Unabänderlichkeit war auch jenseits der Metropole am Werk, in jener Satellitenstadt, Außenstelle des Großen Todes, im Konzentrationslager Stutthof, weit im Norden, an den Ufern der Ostsee, an der Mündung der Weichsel, jenes Flusses, der wie die Eisenbahnstrecke, die von den Ausläufern von Auschwitz ganz allmählich in jenen gewaltigen furchtbaren Wald führte, der sich heute auf dem Gelände des Lagers für jüdische Frauen erstreckt und den ich auf der Suche nach dem Grab meiner Mutter gesehen habe.
Meine Mutter erholte sich von der Entbindung, bevor das Lager Stutthof evakuiert wurde. Der Todesmarsch war überaus grausam, die noch überlebenden Frauen waren dem horrenden und brutalen Morden der SS-Truppen ausgesetzt. Sie entfloh dem. Sie und ihre drei Freundinnen flohen, kurz bevor die Evakuierung einsetzte, nahmen die Identität deutscher Flüchtlinge aus der nahe gelegenen, ausgebombten Stadt Elbing an und fanden Unterschlupf in einer Hütte auf dem Hof eines deutschen Bauern.
Abb. 22
Abb. 23
Dort erkrankte eine der Frauen, es war jene, die mir später erzählte, wie es meiner Mutter ergangen war, seit sie Auschwitz verlassen hatte, bis zu ihrem letzten Atemzug. Mutter besaß einen Diamanten, den sie von meinem Vater erhalten hatte, bevor sie wegging, damit sie für sich und das Baby sorgen könne, wenn es notwendig werden würde. Sie tauschte ihn gegen Geld, Kleider und Medikamente ein und kümmerte sich um die junge Frau, die an einem ernsten, üblicherweise tödlich verlaufenden Typhusfieber, dem Fleckfieber, erkrankt war, das sie aus Stutthof mitgebracht hatte, als sie flohen. Die Frau erholte sich. Danach, wie sie bei ihrem Besuch in Jerusalem erzählte, wurde meine Mutter krank und erholte sich nicht. Sie liegt in dem kleinen Dorf an der Mündung der Weichsel begraben, wo die vier Zuflucht fanden – damals unter seinem deutschen Namen Nickelswalde bekannt und heute unter seinem polnischen Namen Mikoszewo –, in der Nähe des ehemaligen deutschen protestantischen Friedhofs. Heute gibt es dort nur einige Gräber polnischer Katholiken, an diesem Ort, den wir auf wundersame Weise ausfindig machen konnten.
Abb. 24
Das unabänderliche Gesetz des Großen Todes, das unabänderliche Gesetz, das in jenem Traum in endlosen Variationen wiederkehrt, das ich einmal »den ewigen Tod des Kindes« nannte – die furchtbare Unabänderlichkeit ließ nicht einmal hier ab, bei dem Versuch, sie zu retten. Ihre letzten Augenblicke, ihre letzten Traumgesichte, wie jene Freundin sie beschrieben hat, galten mir: Sorge und Alpträume, in denen ich mich in einem Versteck verbarg, das Vater und ich vorbereitet hatten für die Zeit, wenn das Familienlager liquidiert werden würde, für den Fall, dass ich das Lager nicht verlassen würde; das heißt, wenn es mir nicht möglich gewesen wäre zu gehen, wenn ich nicht zu der Gruppe der Jugendlichen gehört hätte, für die eine weitere Verlängerung des Lebens vorgesehen war. Obgleich meine Mutter wusste, dass ich hinausgekommen war, denn als wir uns trafen, war ich bereits in einem anderen Lager, war es
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