Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
lebendigen, brennenden Ort berührt, der verschleiert liegt unter licht-schattigen Schichten ständigen Schweigens. Auch hier scheinen einzelne Szenen in den Vordergrund zu treten.
An der Schwelle des Auszugs aus dem Hades
Die erste Szene findet im Herzen der Metropole statt, aber auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen und an ihrer letzten Station – der »Rampe« zwischen den beiden Krematoriumsanlagen I und II . Die erste Szene also ereignet sich jenseits der Schienen, im Frauenlager von Birkenau, im Juli 1944. Hier liegt vielleicht der Anfang. Das Ende oder die Fortsetzung und die Endgültigkeit kamen viel später, an einem weit entfernten Ort, der auf unheimliche Weise mit einem mächtigen Wasserstrom verbunden ist; dem Strom der Zeit, der die Metropole des Todes passiert und weit entfernt in einer ihrer Satellitenstädte in die Ostsee mündet.
Abb. 21
Diese Reise ans Ende – nach Danzig und zum ehemaligen Konzentrationslager Stutthof – wurde 48 Jahre später unternommen, im Oktober 1992. Sie ist in meinem damaligen Tagebuch dokumentiert und umfasst etwa die Zeit von Oktober 1992 bis Februar 1993.
Ich kehre zum Juli 1944 zurück: dem letzten Bild, eigentlich dem einzigen, als ich mich von meiner Mutter verabschiedet habe. Es war einige Tage nach der endgültigen Liquidierung des Familienlagers BIIb, das heißt, es war die Liquidation derer, die nach den vorangegangenen, endgültigen Selektionen übrig geblieben waren. Ich war zusammen mit den anderen Jugendlichen ins Männerlager BIId gebracht worden, während meine Mutter, wie gesagt, auf die andere Seite in die grauen Ziegelsteingebäude des Frauenlagers gebracht wurde.
Dort habe ich sie zum letzten Mal gesehen, als ich kam, um mich von ihr zu verabschieden. Um uns noch einmal zu sehen, bevor sie gehen würde. Ich wusste, dass sie gehen würde. Wohin? Wusste ich nicht. Es war, bevor sie jenen Zug bestieg, dessen Gleise scheinbar nur in eine Richtung verliefen, bis sie von den Krematorien oder von dem verwobenen Spinnennetz der Lagerbauten verschluckt wurden. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Bilder: ein Bild. Eigentlich sind es Sekunden, nur Sekunden, Sekunden eines hastigen Abschieds, danach wandte meine Mutter sich um und begann in die Ferne zu gehen, den grauen Lagerbauten entgegen. Sie trug ein dünnes Kleid, das in der leichten Brise flatterte, und ich sah, wie sie ging und in die Ferne entschwand. Ich erwartete, dass sie sich umdrehen würde, erwartete irgendein Zeichen. Mutter drehte sich nicht um, sondern ging weiter, ging, bis sie nur noch ein winziger Punkt am anderen Ende war, der Punkt, das wusste ich, war das leichte Sommerkleid – und dann verschwand sie. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Ich konnte es nicht verstehen. Wieder und wieder fragte ich mich, was dieses Rätsel zu bedeuten hatte, die Hartherzigkeit dieses Handelns, gefolgt von dem langsamen Entschwinden, bis sie nur mehr ein winziger Farbpunkt war. Seitdem dachte ich darüber nach, bis heute denke ich darüber nach: Warum hat sie sich nicht umgedreht, nicht ein einziges Mal? Ich wusste, dass es ihr bestimmt war, von diesem Ort zu gehen. In diesem Gehen, in dem verzweifelten Versuch, den Hades von Auschwitz zu verlassen. Ich weiß nicht, ob ich schon damals daran dachte, aber wann immer ich versuche, über diese Szene nachzudenken, über diesen letzten Augenblick, ist es unmöglich, nicht den archetypischen Mythos heraufzubeschwören. Wer dort Orpheus und wer Eurydike war, ist mir nicht klar, aber Mutter wandte ihren Kopf nicht, sie ging weg und verschwand.
Die einfache Erklärung, die ich damals fand, besagte, dass sie, hätte sie sich umgedreht, den Wahnsinn dieses Horrors, den unerträglichen Schmerz nicht ausgehalten hätte, das Wissen, dass sie uns dort allein ließ unter der Herrschaft des unabänderlichen Gesetzes, von dem niemand ausgenommen war, und sicher nicht ich, so jung wie ich damals war. Und vielleicht fürchtete sie im Wahnsinn dieses Schmerzes, dass, hätte sie sich zu mir, zu meinem Vater und mir umgewandt, wir alle umgekommen wären.
Es war erst viel später, lange Zeit nach dem Krieg, lange nachdem uns die Nachricht ihres Todes erreicht hatte, dass ich mehr erfuhr, hier in Jerusalem, von ihrer Freundin, über ihre letzten Augenblicke oder eigentlich über die lange Reise aus Auschwitz heraus und über die Zeit in jener Satellitenstadt der Metropole des Todes, im Lager Stutthof; ich erfuhr etwas, das eine andere Erklärung, vielleicht,
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