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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Otto Dov Kulka
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und auch meiner Gedanken. Den Beginn der Reise enthalten sie nicht, das Bild des Anfangs, das Verlassen von Auschwitz, diesen verzweifelten Versuch, dem Hades zu entkommen, und die Geschichte des neuen Lebens, das sich vermutlich dem Schicksal entzogen hatte, dem alle unterworfen waren, selbst wenn es weit entfernt lag. In dieser vom Schicksal vorherbestimmten Tragödie, für die ich den Orphischen Mythos bemühte, war es unmöglich, den Fluss Styx der Weichsel ins Leben zurück zu überqueren. Es gab nur die Möglichkeit, auf ihm die Reise anzutreten und seiner Strömung nordwärts zu folgen. Und das sich entfaltende unabänderliche Gesetz erreichte selbst den kleinen Tod – sogar das kleine Wesen – durch die Hand der selbstgerechten Frauen, vielleicht Schicksalsbotinnen, und der Große Tod holte meine Mutter auch dort ein. Es war am 25. Januar 1945, kurze Zeit bevor das Dorf von der sowjetischen Armee befreit, oder, wie es die damals ansässige deutsche Bevölkerung empfand, erobert wurde.

Abb. 35

8

Landschaften einer privaten Mythologie
    Das versiegelte Tor der Gnade
    In diesem Kapitel begebe ich mich in eine ganz andere Zeit, in das Jerusalem der späten sechziger Jahre. Ich erinnere mich nicht, ob es unmittelbar nach dem Krieg war, dem Sechstagekrieg, oder ein, zwei Jahre später, nachdem ich von einem einjährigen Aufenthalt aus England zurückgekehrt war, aber der Ort, an dem ich diese Erfahrung machte, war der Tempelberg. Es war mein erster Besuch auf dem Tempelberg oder zumindest seines entlegenen und vernachlässigten nordöstlichen Teils, hinter dem Felsendom auf dem Weg zum Gnadentor, dem versiegelten Goldenen Tor. 9

    Abb. 36
    Ich ging allein. Ich überquerte den mit Steinplatten belegten Platz und ging an den antiken Prachtbauten vorbei, die sich erhalten hatten. Ich ging weiter hinein in den ungepflegten, verlassenen Bereich, der überall von Gras und hohen Dornen – nicht sehr hoch, aber dicht, dunkel und grau – überwuchert war, und eine unvergleichliche Stille begleitete mich, als ich mich den Treppenstufen zum verschlossenen Tor näherte.
    Plötzlich überkam mich ein Gefühl absoluter, unerschütterlicher Gewissheit: An diesem Ort bin ich schon mal gewesen!
    Das war natürlich absurd. Natürlich war ich nicht an diesem Ort gewesen, niemals zuvor, konnte ich gar nicht, aber die Gewissheit war vollkommen, untrüglich. Ich zermartere mir das Gehirn, versuche die Dinge zu analysieren, Details wiederzukennen, erforsche Gefühle, finde Erklärungen – und in diesem Moment blieb ich stehen. Stand vor einem rostigen Stück Stacheldraht, das in dem dort wild wachsenden Gras lag. Die Assoziation scheint sehr einfach zu sein, obgleich man fragen könnte: »Worin besteht der Zusammenhang zwischen dem Stacheldraht hier und Auschwitz?« Mir war klar, dass dies nicht das Auschwitz in seiner »glanzvollen, grandiosen Zeit« war, sondern das Auschwitz des ersten flüchtigen Besuchs aus den Jahren nach dem Krieg, der offenbar völlig in meiner Erinnerung versunken war und den ich bis jetzt nicht erwähnt habe. Es war der Besuch eines 14-jährigen Jungen, der als Zeuge in einem Prozess auftrat, der 1947 in Krakau gegen die SS -Belegschaft von Auschwitz geführt wurde. Während wir dort waren, erlaubte man uns, Auschwitz zu besuchen, und dabei kamen wir auch nach Birkenau.

    Abb. 37
    Das erstmalige Erfahren jener verlassenen Ruinen, dieses furchtbaren Kontrasts, eines Ortes, der mit historischer Bedeutung aufgeladen war, ein Ereignis von gewaltigem Ausmaß, dramatisch, voll von Menschenmengen, Tod und Geschichte; das Bewusstsein dieser so aufgeladenen weltgeschichtlichen Bedeutung, nun als Ruine daliegend; und der Kontrast zwischen den Ruinen der Metropole des Todes und der zweitausend Jahre zurückliegenden Vergangenheit, der so grell, so gravierend war und doch genauso dazugehörte – hier offenbar lag die ursächlichste Ursache des Erstaunens, das den Wanderer befiel, als er den Tempelberg durchstreifte und die Schichten der versiegelten Vergangenheit durchschnitt. 10
    Tatsächlich war dieser antike Ort wie kein anderer aufgeladen mit der Entfaltung des historischen Traumas, mit Tod und Endzeit, mit allem, was aus diesem Ort hervor- oder in ihn eingegangen war, und ihn zu durchschreiten hieß, sich seinen Weg durch die stummen Ruinen zu bahnen, durch wild wachsendes Gras, mittendrin der rostige Stacheldraht, der diesen Ort mit dem anderen verbindet. Wäre der rostige Stacheldraht nicht gewesen, hätte

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