Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
dieses Bild, wie ich in dem Versteck des verlassenen Lagers zurückblieb, das sie in ihren letzten alptraumhaften Stunden begleitete; ein Versteck, das sich in einer Art Hochboden des riesigen Wassertanks im Waschraum der Häftlinge befand, der Baracke mit der wunderbaren Akustik, in der wir sangen – 200 Meter von der Selektionsrampe und etwa 300 Meter vom Krematorium entfernt –, wo wir damals im Kinderchor die »Ode an die Freude« sangen: Freude! schöner Götterfunken! Tochter aus Elysium! Wir betreten! feuertrunken! Himmlische! dein Heiligtum! Hier schloss sich der Kreis, nachdem ich das Ende dieser Tragödie, vorherbestimmt, wie es war, hier in Jerusalem im Jahr 1961 gehört hatte.
An der Mündung des Großen Flusses der Zeit, an den Ufern der Ostsee
Ich habe diese Geschichte vom Ende einer anderen vorangestellt, in der sich ein weiterer Kreis schließt: Es ist die Geschichte, in der mein Vater und ich nach Danzig und Stutthof zurückkehren. Wir kehrten zurück, um nach dem Grab zu suchen, um die Satellitenstadt der Metropole des Todes zu finden – und wir erreichten sie. Das Tor, anders als das in Birkenau, war in gutem Zustand, und die Gebäude, die den Besucher erwarteten, waren gleichermaßen gut bewacht wie gut erhalten, mit Museums- und Arbeitsräumen für die Belegschaft an jenem Ort, der in der Zwischenzeit zu einer Gedenkstätte geworden war. Eine Gedenkstätte vornehmlich für das Gefangenenlager der polnischen nationalen Widerstandsbewegung gegen die Nazis. Die Allee, die ins Lager führte, und ihr Verlauf innerhalb des Lagers erinnerten an die gepflegten Lager wie Dachau in Deutschland, mit Lageplänen, Karten und Statistiken, woran sich einige Räume anschlossen, in denen Folterzubehör und Utensilien für Hinrichtungen ausgestellt waren. Das Lager selbst jedoch, Stutthof, war eine Art Feld, von fast unendlich scheinender Weite, verlassen und doch gepflegt, das Gras war geschnitten, eine Art Rasen erstreckte sich – nicht grenzenlos, aber bis zum Rand eines großen schwarzen Waldes, hinter dem, wie man uns sagte, das Meer lag.
Abb. 25
Als wir dort standen, in der späten Oktoberkälte, die von den Ufern der Ostsee wehte, neben einem der Übersichtspläne dieses gepflegten Lagers, löste ich mich von der Gruppe und begann in Richtung Wald zu laufen. Denn hier, in diesem Wald, wie uns erklärt wurde, hatte sich das Lager der jüdischen Frauen von Auschwitz befunden. Dort war auch die große Grube gewesen, in der die Leichen verbrannt wurden.
Abb. 26
Ich ging – ohne zu wissen, wohin ich ging oder was ich wollte –, ich ging über die große Rasenfläche ohne Zäune, ohne elektrischen Stacheldraht, ohne hohes Gras, ohne Bäume, über die Fläche, auf der die Lager durch rechteckige weiße Gebilde aus gehauenem Stein markiert waren, auf denen Tafeln standen, die die verschiedenen Lager bezeichneten, die sich dort in der Vergangenheit befunden hatten.
Ich ging von einem Erinnerungsmal zum nächsten, von einem Lager zum nächsten, näherte mich dem Wald, in dem keine Tafel stand und auch kein Stein lag. Er war ein Ort urzeitlicher Trostlosigkeit: Morast, umgefallene Bäume, weiße Birken, dunkle Bäume und Bäume, bei denen ich mir nicht die Mühe machte, sie zu bestimmen.
Abb. 27
Ich kam näher, und nach einem Moment des Zögerns betrat ich den Wald.
Abb. 28
Ich umging den Morast, die Pfützen und hielt an, wo ich war. Ich sprach das Kaddisch, ich las Kaddisch, das jüdische Totengebet. Ich trat den Rückweg an.
Lederstreifen
Während ich dort entlangging, sah ich vor mir nur den Wald. Auf dem Rückweg waren meine Augen auf den Boden geheftet. Als ich ziellos das Gras durchstreifte, sah ich alle paar Schritte Lederstreifen – dunkel, einige vermodert, vertrocknet. Ich hob einen oder zwei von ihnen auf, ohne zu wissen, was ich tat, aber wie bei meinem Rückweg aus Birkenau, als ich den Teil eines Ziegelsteins von den Überresten der Jugend- und Kinderbaracken aufhob und einen weiteren vom Schutt des Krematoriums und sie mit mir nach Jerusalem nahm, war es zweifellos dasselbe, was ich mit diesen Lederstreifen tun wollte und tat. Weil sie das einzig Auffallende im Gras waren.
Abb. 29
Ich kehrte zurück und erreichte meine Begleiter. Wir gingen alle zu dem gepflegten, warmen Hauptquartier der SS , das nun ein Ort der Forschung geworden war. Die Direktorin der Gedenkstätte bat mich, den »angesehenen Historiker«, das Forschungsteam bei Tee und Keksen zu treffen. Dieses Anliegen
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