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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Otto Dov Kulka
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sich das überwältigende, untrügliche Gefühl – an diesem Ort bin ich schon mal gewesen – möglicherweise nie eingestellt.
    Als ich das verstand, kehrte ich nach Auschwitz zurück. Nicht sofort. Ich verließ den Tempelberg, physisch, aber in meinem Bewusstsein kehrte ich nach Auschwitz zurück. Es muss damals gewesen sein, dass ich zu dem Entschluss kam, dorthin zurückzukehren und durch jene Trostlosigkeit zu wandern, inmitten der Polarität, in der ich die wimmelnde Gegenwart von Leben und Tod spüre, das Getriebe jener angstbehafteten Historie, die dort in Trümmern liegt. Das ist es, was mich stets zurückbringt zu jenem furchtbaren unabänderlichen Gesetz, das mich erfasst hat und nicht loslässt und dessen Wesentliches für mich dort geblieben ist. Es muss damals gewesen sein, dass ich entschied zurückzukehren, vielleicht ohne mir dessen bewusst zu sein. Das ist der Hintergrund für das, was sich zehn Jahre später, 1978, während der Reise nach Polen ereignete, als ich an einer wissenschaftlichen Konferenz teilnahm, an deren Ende die Rückkehr in die Metropole des Todes stand – so wie sie vielleicht bis heute existiert. Ich denke nicht, dass ich noch mal an jenen Ort zurückkehren werde, aber dieser Besuch, den ich alleine machte, nahm wahrscheinlich seinen Anfang in der für mich verblüffenden Erfahrung, damals auf dem verlassenen und verfallenen Tempelberg, gegenüber dem versiegelten Tor der Gnade. 11

    Abb. 38
    Der blaue Sommerhimmel
    Ein weiterer Zeitsprung in eine andere Landschaft und andere Farben. Die Farbe ist blau: klarer blauer Sommerhimmel. Silbrige Spielzeugflugzeuge, die Grüße aus entfernten Welten bringen, bewegen sich langsam durch den azurfarbenen Himmel, während um sie herum etwas explodiert, das wie weiße Blasen aussieht. Die Flugzeuge ziehen vorbei, und der Himmel bleibt blau und herrlich, und in weiter Ferne, weit weg von diesem klaren Sommertag, zeichnen sich blaue Berge ab, als wären sie nicht von dieser Welt. Das war das Auschwitz jenes elfjährigen Jungen. Und wenn dieser Junge, der dies nun aufzeichnet, sich selbst befragt – und er fragt sich stets –, was war die schönste Erfahrung in den Landschaften deiner Kindheit, wohin flüchtest du auf der Suche nach der Schönheit und der Unschuld, dann ist die Antwort: zu jenem blauen Himmel und zu den silbernen Flugzeugen, diesen Spielzeugen, und in die Ruhe und Stille, die ringsum zu herrschen schienen; denn ich habe nur diese Schönheit und die Stille in mich aufgenommen, und so blieben sie meiner Erinnerung eingeprägt.

    Abb. 39
    Dieser Kontrast ist untrennbar mit den schwarzen Kolonnen verbunden, die vom Krematorium verschluckt werden, und mit den Stacheldrahtzäunen, die Betonsäulen ringsum gespannt hielten. Aber in der damaligen Erfahrung existierte all dies anscheinend nicht, es lebte nur im Hintergrund, unbewusst.
    Das Bewusstsein hat den Eindruck der kühnen Sommerfarben jenes riesigen Raumes in sich aufgenommen und verborgen; des strahlend blauen Himmels, der Flugzeuge – auch die Empfindung des Jungen, der sie anschaute und alles um sich herum vergaß. Es gibt fast keine Rückkehr in jene Metropole mit ihren düsteren Farben, mit dem Gefühl des unabänderlichen Gesetzes, das alles Lebende in den Grenzen der ihm zugestandenen Zeit und des Todes umschließt; das heißt, es gibt nahezu kein Gefühl einer Rückkehr in jene Welt ohne das Gefühl der Rückkehr zu diesen wundervollen Farben, zu dieser stillen, verzauberten und verlockenden Erfahrung des blauen Himmels von Auschwitz-Birkenau im Sommer 1944.
    Ich kann nach vielen ähnlichen Erfahrungen suchen, vielleicht aus der Zeit vor Auschwitz, vor Theresienstadt, vor dem Transport, in meiner frühen Kindheit: Landschaften einer Kindheit in Böhmen, grün und hell – aber sie sind alle blass. Ebenso alle späteren Landschaften in Israel. Landschaften in glühenden Farben unter gleißendem Licht von Gelb und Blau – das Blau des Himmels ist in diesem Land viel stärker als jedes andere Blau, das ich jemals irgendwo gesehen habe. Aber dennoch, das eine ist blass und verschwommen, das andere grell und grausam und gehört irgendwie nicht dazu. Das einzige wirkliche Blau, das jede andere Farbe übertrifft, eingebrannt in meine Erinnerung als die Farbe des Sommers, die Farbe der Stille, die Farbe des Vergessens – eines vorübergehenden Vergessens –, ist die Farbe eines polnischen Sommers im Jahr 1944.
    Und dem kleinen Jungen, der zu diesem Sommer gehört, wird

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