Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
dachte, ihr würdet mir vielleicht etwas vorbehaltloser entgegentreten.“
Ich überlegte. Was der Kater sagte, klang überzeugend, abgesehen von der Tatsache, dass er es überhaupt tat. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie man hier oder andernorts mit sprechenden Tieren umzugehen pflegte.
„Aber ungewöhnlich ist es schon“, gab ich zu bedenken. „Zumindest, wenn ich das sagen darf.“
Der Kater rekelte sich auf dem Fassdeckel. „Natürlich. Ich empfinde mich ja selbst als ungewöhnlich.“
Plötzlich kam mir eine Idee.
„Du als Katze kennst dich doch sicher hier im Ort aus.“
„Das möchte ich meinen“, behauptete der Kater. „Ich weiß viel mehr über die meisten Leute, als sie wollen würden.“
„Dann hast du sicher von den Morden gehört?“
„Natürlich.“
„Wir sind hier, um bei deren Aufklärung zu helfen.“
„Ich weiß.“
„Aber wir können unsere Augen und Ohren nicht überall haben.“
„Du möchtest Hilfe“, brachte der Kater es auf den Punkt.
„Genau. Wärst du so nett?“
„Wonach sucht ihr denn?“
„Gute Frage. Nach Zusammenhängen, würde ich vermuten. Du kennst die Familien der Opfer?“
Der Kater nickte. Natürlich tat er das.
„Vielleicht könntest du dich dort ein wenig umhören. Unter Umständen bekommst du ja Dinge mit, die wir nicht zu hören kriegen.“
Wieder nickte der Kater.
„Apropos“, wandte ich ein. „Möchtest du eine Gegenleistung?“
„Das entscheide ich dann“, entgegnete das Tier. „Wo finde ich euch?“
„Im Landsitz des Grafen. Könnte aber sein, dass wir in die Stadt ziehen. Das Herrenhaus liegt mir zu weit abseits.“
Der Kater hüpfte auf einen Mauervorsprung.
„Abgemacht“, sagte er und sprang weiter über den angrenzenden Zaun auf ein Fenstersims im zweiten Stock.
„He“, rief ich ihm nach. „Wie heißt du eigentlich?“
„Marius“, kam es von oben, ehe der elegante Katzenschwanz hinter der Hausecke verschwunden war.
Ich setzte meinen Weg fort. Sprechende Katzen und wütende Geister. Was für ein bizarrer Ort.
5.
Die Welt schien immer grauer zu werden seit dem Tag des Unfalls, und das lag nicht nur daran, dass Katzen für gewöhnlich kaum Farben wahrnahmen – wobei sie dafür aber erfreulich scharf und selbst noch in nahezu völliger Dunkelheit zu sehen befähigt waren.
Erst hatte er sich gefreut, dass er nun fähig war, die Menschen zu verstehen, jene bewundernswert großen, aber erschreckend dummen Tiere auf zwei Beinen. Er verstand, was sie sagten, was sie fühlten, was sie begehrten. Das Tor zu einer völlig neuen, spannenden Welt hatte sich aufgetan.
Doch schon bald entdeckte er die Vorurteile der Menschen. Ihre Animositäten dem Unbekannten gegenüber.
Bald hatte er erfahren müssen, dass die meisten Menschen blind waren für den Zauber, der sie umgab. Begann er eine Unterhaltung, jagten sie ihn davon.
So kam es, dass er sich zum ersten Mal als Missgeburt fühlte. Nicht bereit für diese Zeit, keine Zeit für Optimismus, keine Lebensfreude.
Was man nicht kannte, war gefährlich. Wer hätte das besser nachvollziehen können als ein Tier? Als Hybrid – eine so menschelnde Seele in einem animalischen Körper, elegant und unbequem gleichermaßen, doch ohne Zweifel praktisch – hatte er gelernt zuzuhören, wie die Menschen über die Welt sprachen, deren Ausmaße er wohl niemals sehen würde. Zu groß war die Erde für ein Katzentier, zu weitläufig waren Feld und Flur. Von menschlichen Genüssen hatte er gehört und von Zeit zu Zeit gekostet. Doch bekam ihm weder der Branntwein noch das benebelte Orakeln unter dem Einfluss allerlei anderer Drogen.
Konversation war einst ein erstrebenswertes Ziel gewesen, doch hatte man ihn vor Zeiten eines Besseren belehrt – mit einem Besenstiel. Seitdem war er nur mehr der stille Zuhörer gewesen, hatte die Kunst des Denkens zu pflegen gelernt. Denn die Sprache befähigte ihn, in seinem Geist abstrakte Formen zu bilden. Er hatte Französisch und Englisch gelernt. Die langen Tage, die er gespannt auf den Fensterbänken der Hörsäle gesessen und den Vorlesungen über Descartes und Kant gelauscht hatte, verschmolzen in seiner Erinnerung zu einem einzigartigen Bild der Erkenntnis: Er sammelte Wissen und erlangte Macht. Keine profane, materielle Macht. Nein, Macht über sich selbst, Macht über den Geist. Macht über die abstrusesten Fantasien, die perversesten Ideen und die verruchtesten Gedanken.
Aber Macht berauschte lediglich. Kontrolle machte ebenso besessen,
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