Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
wie es Tabak und Wein taten.
So waren Jahre ins Land gezogen, in denen der Kater gemerkt hatte, dass die Zeit der Feind des Lebens war. Nein, das war so nicht ganz korrekt. Die Zeit war der Feind des eigenen Lebens. Er wusste nicht, wie viele Kinder er hatte. Viele waren es gewiss geworden.
Ein Stück der Weite, von der er so viel vernommen hatte, wollte er noch sehen. Mäuse gab es überall, und so begab er sich auf die Reise durch ein gebeuteltes Europa. Er sah Prag, Paris und London. Fuhr auf Schiffen und auf Eisenbahnen und sah die berühmtesten und schönsten Werke menschlichen Schaffens.
Am Ende war er des Reisens müde gewesen und hatte beschlossen, wieder dorthin zurückzukehren, wo man Deutsch sprach.
Verzweifelte Sehnsucht trieb ihn ins hannoversche Land, in dieses kleine Städtchen, dessen wundersame Geschichten in Erfahrung zu bringen beinahe so spannend war, wie der Erde übrige Länder zu bereisen.
Man nahm ihn in gutem Hause auf, pflegte und umsorgte ihn und ließ ihm jedweden Freiraum. Der Sohn des Hauses wurde älter und wuchs in einen Schleier aus verwobenen Geheimnissen hinein, der diesen Ort zu umgeben schien und vor dem die Menschen so sorgfältig ihre Augen verschlossen.
Hatte denn niemand bemerkt, dass im Körper des jungen Martin eine weitere Seele nistete? Hatte niemand jemals die Kreaturen im Wald, weit draußen bei jenem uralten Steinkreis, tanzen sehen? War noch niemandem der weiße Schatten aufgefallen, der in manchen Nächten von Haustür zu Haustür huschte und den Erstgeborenen böse Worte in den Schlaf flüsterte?
Wäre er ein Mensch gewesen, so wäre ihm dieser Ort nicht geheuer gewesen, und er wäre schnell wieder von dannen gezogen. Doch er war lediglich ein braun getigerter Kater. Wer würde ihm etwas tun, solange er nur still hielt und nicht sprach? Außerdem war es so einfach, in der Umgebung der reichen Kaufmannsfamilie zu vegetieren, dort, wo Kissen und Bänke und feines Gebäck und Zeitungen den Teppich für die Wissbegierigen ausrollten.
Die Welt wurde grauer, aber es würde ihn nicht kümmern.
Denn Katzen sahen Farben ohnehin nicht ganz so kräftig.
6.
Schatten seien lebendig, sagte man vielfach. Ihnen wohne ein Nachhall ihres Besitzers inne, ein Flüstern von den Dingen, die er selbst nicht nach außen zu tragen vermochte.
Es sollte Wahrsagerinnen bei den Roma geben, die ihre Erkenntnisse über die Menschen aus deren Schatten zogen. Doch darüber hinaus bewahrten die Zigeunerclans sicherlich noch ganz anderes verborgenes Wissen.
So flackerten unsere Schatten im Schein des Kaminfeuers, das Caspar für uns geschürt hatte, während wir bei einem heißen Grog die Ergebnisse des Tages erörterten und Pfeife rauchten – unter Salandars Protest.
Mein Besuch bei dem depressiven Literaten war von wenig Erfolg gekrönt gewesen. Im Grunde hatte er sich bei mir nur über die andauernde Verachtung ausgelassen, die das gemeine Volk dem Künstlerdasein entgegenbrachte. So hatte ich eine Weile darüber nachgedacht, ob sich Künstler aller Art dieses Leben vielleicht nur aussuchten, um ihren Jammer über die Welt auszuleben. Dass die gesittete Oberschicht in Leyen ihn nicht mochte, war kein Wunder, denn der große literarische Durchbruch war dem Mann bisher verwehrt geblieben. Dabei bezweifelte ich gar nicht, dass sein Intellekt und seine Belesenheit ausreichten, um die ein oder andere Handwerkertochter zu verführen und sie unglücklich sitzen zu lassen.
Die leichten Mädchen aus der Rose hatten den Poeten in guter Erinnerung, wie Salandar zu berichten wusste. Seinen emotionalen Frust hatte Bender schon so manches Mal in gekaufter Liebe und falschem Champagner zu ertränken versucht.
Interessant war unterdessen, dass auch der ermordete Wagner ab und an ein gern gesehener Gast im Etablissement gewesen war.
So kamen wir wieder auf das Thema Eifersucht und ob es sich tatsächlich bloß um eine gewöhnliche Straftat handeln könne. Schließlich hatte es die Betreiberin des Freudenhauses ebenfalls erwischt. Doch warum sollte die Frau des Wagners eifersüchtig auf einen anderen Freier gewesen sein? Was hatte der Barbier damit zu schaffen, von dem man Salandar versichert hatte, dass er niemals in der Rose gesehen worden sei? Warum auch, wenn er für weibliche Reize überhaupt nicht empfänglich war.
Hagen hatte nur beizutragen, dass er die Besuche des Wagners bei den leichten Mädchen nach seiner Bekanntschaft mit dessen Frau durchaus nachvollziehen könne.
„Die Alte ist
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