Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
Kunst seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und wie das Schicksal von Zeit zu Zeit so spielt, trafen seine Wege die meinigen nachts in einer spukenden Ruine. Wir wollten beide dasselbe: ein Leben, ein Vergessen, eine Sorglosigkeit.
Ab hier kannte ich die Geschichte.
Ich erinnerte mich auch, wie wir Jahre später Hagen begegneten. Ebenfalls des Nachts.
Zudem drang in meinen Verstand das Bild eines unfertigen Schriftstücks, das mir bei dem beklagenswerten Nikolaus Bender ins Auge gefallen war, den ich nach der Begegnung mit Marius aufgesucht hatte.
Lang, lang lebe die Nacht , hatte es begonnen.
Mit den Gedanken abseits der Grafschaft Eulenbach und ihrer Geheimnisse schien mir in diesem Augenblick einiges deutlicher als zuvor.
4.
Wie verlassen ein Haus wirklich sein konnte, merkte man erst, wenn man durch die herumliegenden Erinnerungen einer verlorenen Welt stapfte.
Die Leute hatten in ihrer Panik ein Chaos aus umgeworfenen Stühlen, heruntergerissenen Gardinen und auf dem Fußboden verteiltem Essen hinterlassen. Niemand hatte die Villa der Ehlerts seit dem gestrigen Tag betreten. Zu schwer lastete das Außergewöhnliche auf den unbedarften Seelen der hohen Bewohner des Städtchens Leyen, und niemand, wirklich niemand wollte dem Spuk begegnen, der Mechthild Ehlert getötet hatte. Der Ort stand unter Schock.
Missmutig schob Hagen ein teures Weinglas mit dem Fuß zur Seite, während Salandar und ich in alle Ecken des verwaisten Gesellschaftszimmers spähten.
„Denkst du, was ich denke?“, fragte mein Freund, der ehemalige Magier, während er die Finger über die zerstörten Saiten des Cembalos gleiten ließ.
Ich hielt inne und sah mich noch einmal um, dann nickte ich.
„Die Bilder“, stellte ich fest.
„Eines der Bilder“, berichtigte Salandar.
Ich nickte und sah mich nach Marius um. Der Kater stand im Türrahmen und machte einen verwirrten Gesichtsausdruck – zumindest soweit Hauskatzen dazu in der Lage waren. „Weißt du irgendetwas über diese Bilder hier?“
Marius miaute und sprang auf einen der wenigen Stühle, die noch auf ihren vier Beinen standen. Im Sitzen äugte er mit schief gelegtem Kopf eine Weile von Bild zu Bild, dann schüttelte er bedächtig den Kopf.
„Nein, bedaure“, sagte er. „Mir ist keines der Bilder bekannt. Ich fürchte, ihr müsst ihre Besitzer danach befragen.“
„Nichts lieber als das“, brummelte Salandar sarkastisch.
Wir standen im Zentrum des Raumes beieinander und blickten über die Galerie, die die Ehlerts hier in ihrem Salon zusammengetragen hatten. Die beiden Wände, die keinerlei Fenster oder Terrassentüren aufwiesen, waren über und über mit Porträts bedeckt. Sie entstammten allen Epochen und beinhalteten ein Wirrwarr verschiedener Pinselführungen. Es waren Miniaturen, große Bilder, solche mit protzigen Rahmen, aber auch ganz unscheinbare.
„Ich fürchte, wir brauchen einen Anhaltspunkt“, kommentierte Hagen unser hilfloses Starren.
„Ja“, murrte Salandar, „und zwar sowohl für diese Sache als auch für unseren ersten Auftrag.“
„Hm.“
„Immerhin wissen wir mehr als bei den anderen Morden.“
„Es ist nicht dasselbe Wesen, oder?“
Salandar schüttelte den Kopf.
„Die anderen wurden angeblich nicht erwürgt, und eine solche Verletzung fällt selbst dem dümmsten Bauern auf. Würgemale sind unverkennbar.“
„Wir könnten Ehlert nach den Bildern fragen ...“
„Ja. Aber später. Ich glaube kaum, dass ihm heute oder in den nächsten Tagen der Sinn danach stehen wird.“
„Außer, wir zwingen ihn gewissermaßen.“
„Nämlich wie?“
„Graf Thaddäus könnte ihm die Dringlichkeit des Anliegens ins Bewusstsein rufen. Dem Grafen wird Ehlert wohl kaum eine Bitte abschlagen können.“
Salandar und ich tauschten einen Blick aus.
„Das könnte gehen“, stellte ich schließlich fest. „Warum also nicht? Traktieren wir den armen Mann morgen mit den Bildern seines noch nicht einmal erkalteten Hauses.“
Salandar schüttelte sich, als befalle ihn bei der Vorstellung Ekel. Dann verließ er ohne ein Wort den Salon.
Der Sturm hatte sich lange gelegt, doch die Wolkendecke wirkte immer noch wie gerade aufgerissen, als wir durch den Schlamm der Leyener Straßen stapften. Ein seltsamer Anblick, denn seit unserer Ankunft hier war das Wetter beinahe durchgehend schlecht gewesen.
Auf dem Marktplatz kam uns ein Wagen entgegen.
Er war nicht groß, aber irgendwie eigentümlich. Ein Wohnwagen, dessen gewölbtes Dach grün
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