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Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)

Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)

Titel: Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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einwenden, doch ich kam ihm zuvor.
    „Unter einer Bedingung.“
    Ich stand auf, und der Müller starrte mich einen Augenblick lang argwöhnisch an.
    „Welche Musik hat Sie gerufen?“
    Eine Weile sah ich in die zutiefst durch menschlichen Schmerz bewegten Augen des alten Geistes. Dann ließ er sich endlich zu einer Antwort herab.
    „Die Geige“, entgegnete er erschöpft. „Die Menschenknochengeige.“
    „Menschenknochengeige?“
    „Ja doch“, beschwor er mich, „und jetzt gehen Sie. Bitte!“

    Die verwirrte Maria Regener begleitete uns. Wir hatten ihr einen Grog im Salon des Landsitzes angeboten, außerdem unsere Vornamen, da wir es für konstruktiver hielten, es uns mit eine Frau ihres Kalibers nicht zu verscherzen. Außerdem schien sie nach meiner ungestümen Rettungsaktion etwas versöhnlicher gestimmt.
    Als wir unserer Mäntel entledigt in die Sessel des Eulen-bach’schen Gesellschaftszimmers fielen, war unsere Fähigkeit, klar zu denken, bereits auf ein Minimum geschrumpft. Die Grogs brachte Caspar uns, der sich in unserer Abwesenheit auch um den ruhigen Schlaf des Müllers Roth gekümmert hatte – unter viel Alkoholeinfluss im Dienertrakt.
    Hagen war bereits weggedöst, Maria Regener ebenfalls. Ihre Grogs dampften auf dem Tablett, das der müde Caspar abgestellt hatte, um sich dann seinerseits endlich zu empfehlen. Schließlich musste er morgen früh halbwegs arbeitsfähig sein.
    „Woran denkst du?“, fragte ich in den Raum hinein in Richtung Salandar.
    „An die Menschenknochengeige“, brummte er.
    „Denken wir an dieselbe Geige?“
    „Vermutlich schon.“
    6.
    Von Zeit zu Zeit kam einem die Welt unwirklich vor, obwohl man alles zu fühlen und zu riechen imstande war.
    So war es auch an diesem Morgen.
    Morgens sei die Welt noch unschuldig, hieß es oft. Unberührt von den Sorgen und Qualen, den Ungerechtigkeiten und den Sehnsüchten ihrer Kinder. Morgens, hieß es, könne man das große Lied vom Leben und Vergehen noch klingen hören.
    Am Morgen käme die Rettung, hieß es schon im Psalter.
    Maria Regener hatte mich nicht an die Hand genommen und in den Wald gezogen, das war ganz und gar nicht ihre Art.
    Aber es kam mir ein wenig so vor. Was um alles in der Welt hätte mich sonst dazu bewegen können, mich in aller Herrgottsfrühe mit ihr in den tiefen Wald des Weserberglandes aufzumachen? Sie hatte mich einfach gefragt, mich sanft wachgeschüttelt, während es draußen noch beinahe dunkel gewesen war und die anderen selig im Salon vor sich hin geschlummert hatten.
    Wir hatten unsere vor dem Kamin getrockneten Mäntel und Stiefel übergestreift und waren aufgebrochen.
    Die Luft war feucht vom Tau, und es roch nach Moos und Wurzeln. Die Blätter, die die Bäume schon hatten fallen lassen, raschelten und wisperten unter unseren Stiefeln.
    Wir schwiegen lange, gingen einfach hintereinander her durch die Dämmerung des scheinbar endlosen Waldes. Kalt war es geworden – sicherlich schon vor einigen Wochen, doch wann stand ich schon vor Sonnenaufgang auf? Die Nacht war mein Freund, und häufig genug hatte ich sie in ihrer ganzen Pracht erlebt, wenn sie einsetzte und das Orchester der Welt zum Verstummen brachte. Ja, es war die Nacht, zu der ich mich hingezogen fühlte.
    Schließlich war es auch die Nacht, die die meisten Kreaturen hervorbrachte, die ich jagte und verdammte. Sie war ebenso ihre Freundin wie die meine, denn in der Nacht fürchteten sich diejenigen, denen zu schaden sie sich geschworen hatten – oder denen zu schaden sie erschaffen oder gerufen waren.
    Der Morgen war die Rettung – so häufig.
    Maria imponierte mir. Ihr Selbstbewusstsein reichte wahrscheinlich weit über das jeder anderen Frau hinaus, die mir bisher begegnet war.
    Die Schatten des Lebens hatten ihre Seele abgehärtet. Ihr war nichts geblieben außer dem eigenen Sein. Verband uns das? Oder machte es uns nur zu ebenbürtigen Spielern in ein und demselben schicksalhaften Spiel?
    Ganz gleich, wie es sich auch verhielt: Ich bewunderte sie. Nicht nur ihr Äußeres, diese wilde Schönheit, die sich dennoch nie aus der Weise ergab, wie sie erscheinen wollte, denn alles an ihr war praktischer Natur. Sogar eine lange Büchse hing an einem Lederriemen über ihren Rücken.
    Ich überlegte, welcher Teil von ihr einst zu leben aufgehört hatte und ob dieser Teil zu seinem Ende hin gequält worden war, oder ob er einfach beschlossen hatte, vor dem düsteren Bild der Welt die Augen zu schließen und bald darüber vergessen hatte zu

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