Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
betastete ich die leblose Gesichtshaut.
„Nein“, sagte ich. „Das ist sie mit Sicherheit nicht.“
Mathilda glaubte mir nicht und fühlte selbst noch einmal nach, während ich aufstand und begann, grübelnd Furchen in den Herbstschlamm zu laufen. Schließlich kam ich auf eine absonderliche Idee.
„Was wäre“, wandte ich mich zu Mathilda um, „wenn der Vampir sich erst an Emilia vergangen hätte, nachdem sie tot war?“
Doch die Spinnenbeschwörerin winkte ab.
„Nein“, meinte sie. „Da wäre das Blut geronnen. Unbrauchbar für Vampire.“
„Wenn es kurz nach dem Todeseintritt passiert wäre?“
Die Idee war gut, fand ich. Auch Mathilda schien zu stutzen.
„Warum sollte er das tun?“, fragte sie.
„Keine Ahnung. Das ist die beste Erklärung, die mir einfällt.“
„Hm.“
„Jetzt sollten wir Emilia vielleicht die Ehre erweisen und sie bis zu ihrer Beisetzung wenigstens unter ein Dach bringen“, schlug ich vor.
„Schön.“
Begeistert schien Mathilda immer noch nicht zu sein.
„Aber dann müssen wir dringend reden“, stellte sie fest.
10.
Lieber Salandar,
unsere Theorie, dass es hier irgendetwas geben muss, das die Übernatürlichkeiten anzieht, scheint mehr und mehr an Substanz zu gewinnen. Eine alte Frau, die ein paar spannende Hexentricks beherrscht, wohnt hier im Ort. Die Bevölkerung meidet sie, außer, wenn es um Heilkünste in subtilen Angelegenheiten geht. Fehlende Manneskraft im Bette, Verhinderung einer Schwangerschaft, Heilung von verwirrten Geisteszuständen.
Auf der einen Seite wirkt sie furchtbar umsichtig, immerhin wusste sie, dass Marius sprechen kann. Auf der anderen Seite scheint sie über ein aufbrausendes Temperament zu verfügen. Eine Hexe, wie sie im Buche steht.
Sie ist übrigens gut mit der Roma befreundet, die dir die Karten gelegt hat.
Aber nun zum Grund meines Schreibens. Die Bekanntschaft der Alten habe ich nicht durch Zufall gemacht, sondern weil es hier im Ort einen weiteren Mordfall gegeben hat. Eines der Mädchen aus der Rose hat es erwischt. Die Leiche sah scheußlich aus. Sei froh, dass du nicht zugegen warst! Wir wissen immer noch nicht, was genau sie umgebracht hat. Unsere Vermutung ist allerdings, dass sich kurz nach ihrem Tod ein Vampir an ihr vergangen und ihr Blut getrunken hat.
Ich weiß, die Geschichte klingt abstrus. Aber merkwürdig ist ja ohnehin alles an diesem Ort. Mich würde es nicht wundern, wenn er nach unserer Abreise (wann immer diese auch sein mag) wie ein Traum, wie eine Schaumblase zerplatzen und nicht mehr aufzufinden sein würde.
Hast du je von einem Vampir gehört, der Tote aussaugt?
Vielleicht beziehst du das in deine Recherchen mit ein. Außerdem wäre es nett, wenn du Hagen verbal auf die Distanz einmal ordentlich den Kopf waschen würdest. Er scheint immer noch nicht von Anna abzulassen. Nicht auszudenken, wenn wir bei Thaddäus von Eulenbach tatsächlich in Ungnade fielen. Ich habe Hagen schon den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.
In Hoffnung auf Erfolg deinerseits,
Lucien
11.
Herzen quälten sich.
Sie hatten es schon immer getan. In der Welt waren dank ihnen die Gedanken durcheinandergewirbelt, so wie wir es nur aus den Geschichten kannten. Wir waren Kinder des Krieges, Kinder des Wandels. Europa hatte ein neues Angesicht bekommen, und man konnte es von vormals nur noch wispern hören.
Sicher, es gab sie immer und wird sie immer geben: diejenigen, die meinen, früher sei alles besser gewesen. Doch schließlich rührte dies nur daher, dass man vor der eigenen Zukunft Angst empfindet. Was geschehen war, war geschehen. Sah im Nachhinein betrachtet kontrollierbar aus ... und nicht immer hieß älter gleich besser.
Wellington und Blücher hatten Napoleon bei Waterloo geschlagen, und man sagte ihnen nach, sie hätten auf die uralten Kräfte des Verborgenen vertraut, hätten sich Magie nutzbar zu machen gewusst, hätten sich Zauberer und andere Wesen dienstbar gemacht. Sehr zum Ärger der Kirche in Rom, die das Teufelszeug verdammte. Doch wenn man ehrlich war, so war dieses Teufelszeug nur deshalb ein solches, weil es die Autorität einer Kirche untergrub, die gerne ihre Macht, ihren politischen Einfluss behielt. Was auch immer so großartig daran sein musste, die Welt nur um das Ergreifen des Steuerrades willen lenken zu wollen, blieb mir stets schleierhaft. Was nützte Macht, wenn man sie nicht dazu gebrauchte, aus der Welt einen besseren Ort zu machen? War es ein animalisches Überbleibsel in uns
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