Lange Finger - flinke Beine
Boransky.
»Vielleicht habe ich Mitleid mit Ihnen.«
»Gut«, zischte Boransky enttäuscht, »dann eben nicht. Dann werde ich reden. Bei Gott, das werde ich!« Hektische Flecken bedeckten Boranskys Wangen, als er zur Tür hinausstürzte. Sein Unterbewußtsein sagte ihm, daß er seine Rolle nicht gut genug gespielt hatte. Der Brief beim Anwalt, der nicht existierte... Ob Marussen an ihn glaubte? Wenn nicht, durfte er ihn dann gehen lassen? Boransky nahm auf dem Weg nach unten immer zwei Stufen auf einmal. Von der Rothaarigen keine Spur. Aber bewegte sich nicht der Vorhang neben der Tür?
Er ergriff die Klinke — und prallte auf die Tür. Verschlossen!!
Warum war die Tür verschlossen? Und warum brachte er seine Gedanken plötzlich nicht mehr unter Kontrolle? Boransky rüttelte an der Klinke, so, als habe er noch nichts begriffen.
Eine Etage höher ertönte wieder Beethoven.
Der Vorhang schwenkte zur Seite.
Die Visage des angeblichen Gärtners Erich tauchte auf. »Sie wollen gehen? Gern... Alles hat ja mal ein Ende, auch Besuche, nicht?«
Olaf Boransky suchte nach Worten der Erwiderung.
Die letzten Bilder, die vor seinem geistigen Auge vorbeihuschten, waren zwei lachende Gesichter. Eines gehörte einem Kind namens Aida, das andere einem fröhlichen Mädchen namens Melanie. Zwei Gesichter nur, dabei wurde immer behauptet, der letzte Augenblick reflektiere noch einmal das ganze Leben...
Epilog
Genau eine Woche später zog man Olaf Boransky dreißig Kilometer südlich aus der Weser. Da er keinerlei Papiere bei sich trug, schickte man alle ermittelten Werte an das Bundeskriminalamt. Die Autopsie ergab, daß er in offensichtlich narkotisiertem Zustand ertrunken war, was den Verdacht nahelegte, Dritte könnten an seinem Tod beteiligt gewesen sein. Ein Aufruf in der Presse ließ eine Mietwagenverleiherin bei der Polizei erscheinen. Sie identifizierte den Toten als Mieter eines VW. Beide seien bis heute nicht wieder aufgetaucht. Und sie vergaß auch nicht die Geschichte vom Geburtstag der Tante und der Küstenrallye.
Im Zuge einer Großfahndung entdeckte man den Wagen 30 Kilometer nördlich vor einem Speiserestaurant. Der Inhalt des Handschuhfaches gab Antwort auf eine Reihe offener Fragen. Bevor man jedoch auch die letzte Konsequenz aus der Identifizierung des Toten zog, nämlich einen Besuch bei der Adresse »Nelkenweg 12«, führte der untersuchende Oberinspektor Gräfe noch zwei Telefongespräche. Ein kurzes mit Gefängnisdirektor Dr. Höfer und ein sehr langes mit dem Gefängnispfarrer Hennemann. Letzteres gab den Ausschlag für den sofortigen Antrag auf Hausdurchsuchung des »Nelkenweg 12«.
Noch am selben Abend wurde die Villa von einem Dutzend Polizeibeamten umstellt. Oberinspektor Gräfe und seine Mitarbeiter nahmen insgesamt drei Männer und eine Frau fest.
In einem der Räume stieß man auf eine ungereinigte Injektionsspritze, an deren Nadel sich Blutspuren befanden. Blutspuren, die, wie sich Stunden später herausstellte, mit der äußerst seltenen Blutgruppe Boranskys übereinstimmten.
Der Prozeß gegen Marussen und Helfershelfer erstreckte sich über sieben Monate, und zum erstenmal gelang es, nicht nur die Spitze eines Eisberges freizulegen!
Es begann in Paris
19. Juli
Eine warme, seidenweiche Nacht lag über Paris. Liebespaare, Trinker, Spaziergänger, Diebe, Emigranten, Touristen, Maler, Schlepper und viele, mehr oder weniger geschminkte Mädchen bevölkerten die Boulevardcafés und genossen den warmen Hauch, den die Steinwüste ausatmete, nachdem sie einen flimmernden Tag lang Hitze unter einer sengenden Sonne gespeichert hatte.
Es war die Nacht zum Freitag...
Kein Fremder hätte wohl hinter der grauen und tristen Fassade jenes Hauses in St.-Germain-des-Pr6s ein solches Appartement erwartet.
Sechs Räume, die angefüllt waren mit Kostbarkeiten aus vier Jahrhunderten und die mit zeitgenössischen Möbelstücken eine gelungene Einheit bildeten.
Besonders auffällig war die augenscheinliche Vorliebe des Wohnungsinhabers für die Zeit Ludwig des XIV. Da prunkten Kabinettschränke aus Ebenholz neben paarweise aufgestellten Konsoltischen.
Da gab es Gobelins von seltener Schönheit.
Würdevolle Lehnstühle von 1710 standen neben Sesseln vom Ende des 17. Jahrhunderts. Unübersehbar die Anzahl der Fayencen, Gläser, Porzellanarbeiten und Deckelpokale.
Das Auffallendste jedoch war der hinterste Raum, der mit der übrigen Wohnung so gar nichts gemein hatte. Auf den ersten Blick schien es
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