Lange Zähne
Kurts
Fenster, fast fünfzehn Meter über dem Boden - und unter ihr nur eine Mülltonne
und eine streunende Katze, die ihren Sturz hätten bremsen können. Sie versuchte
wieder zu Atem zu kommen, doch dann erkannte sie, daß sie gar nicht außer Atem
war. Sie fühlte sich, als könnte sie sich stundenlang so halten, wenn es sein
mußte. Aber die Angst vor dem Abstürzen trieb sie weiter. Du bist nicht
unsterblich. Du kannst immer noch getötet werden.
Sie drückte mit der linken Hand
das Fliegengitter am Fenster aus der Halterung, packte den Sims, dann löste sie
die Anspannung in ihren Beinen und ließ sich gegen Kurts Haus schwingen.
Während sie sich mit einer Hand baumeln ließ, nahm sie mit der anderen das
Fliegengitter ab und setzte es drinnen auf dem Fußboden ab, dann zog sie sich
auf den Fenstersims hinauf, kauerte sich darauf und sah sich im Zimmer um.
Zwei Menschen lagen im Bett. Sie
konnte die Wärmeauren sehen, die sich über den Decken erhoben und von dem
kalten Windzug, der vom Fenster herüberwehte, zerstreut wurden. Kein Wunder,
daß ich mich immer über die Kälte beschwert habe. Jody kletterte ins Zimmer und
verharrte, um zu sehen, ob einer der Schlafenden sich rührte. Nichts.
Sie schlich zum Bett und
betrachtete mit beinahe wissenschaftlicher Distanziertheit die Frau. Es war
Susan Badistone. Jody hatte sie bei Kurts Firmen-Picknick kennengelernt und sie
auf den ersten Blick nicht leiden können. Ihr glattes blondes Haar war auf dem
Kissen ausgebreitet. Jody zwirbelte eine Strähne ihrer eigenen roten Locken um
ihren Finger. Das war es also, was er wollte. Und das ist eine gekaufte Nase,
wenn ich je eine gesehen habe. Aber schließlich geht es ja auch nur um den
äußeren Schein, stimmt's nicht, Kurt?
Jody griff die Decke und hob sie
hoch genug, um darunterzuschauen. Sie hat den Körper eines zwölfjährigen
Jungen. O Kurt, du hättest warten sollen, bis sie mit ihren Operationen durch
war, bevor du sie mit nach Hause nimmst.
Sie ließ die Decke fallen, und
Susan regte sich. Jody wich langsam vom Bett zurück. Sie hatte all ihre Papiere
in einem Ziehharmonikaordner unter dem Waschbecken im Badezimmer verwahrt. Sie
ging ins Badezimmer und öffnete den Schrank. Der Ordner war noch dort. Jody
griff ihn und ging zum Fenster zurück.
»Wer ist da?« rief Kurt. Er setzte
sich im Bett auf und starrte in die Dunkelheit.
Jody duckte sich unter das Licht,
das durch das Fenster hereinströmte, und beobachtete ihn.
»Ich sagte, wer ist da?«
»Was ist denn los?« fragte Susan
verschlafen.
»Ich habe was gehört.«
»Da ist nichts, Schätzchen. Du
bist nur nervös wegen dem, was diese schreckliche Frau dir angetan hat.«
Ich könnte ihr ihr dürres blondes
Genick brechen, dachte Jody. Mit diesem Gedanken, mit dem Wissen, daß sie es tatsächlich
tun konnte, verrauchte ihr Zorn. Ich bin nicht »diese schreckliche Frau«,
dachte sie. Ich bin ein Vampir, und weder Schönheitsoperationen noch Geld
werden dich je zu meinesgleichen machen. Ich bin ein Gott.
Zum ersten Mal seit ihrer
Verwandlung fühlte Jody sich vollkommen ruhig und wohl in ihrer eigenen Haut.
Sie wartete in der Dunkelheit, bis die beiden wieder eingeschlafen waren, dann
stieg sie aus dem Fenster und hängte das Fliegengitter wieder ein. Sie stellte
sich auf den Fenstersims und warf den Ziehharmonikaordner aufs Dach, dann
sprang sie hoch, packte die Regenrinne und zog sich ebenfalls auf das Dach.
Auf der Rückseite des Gebäudes
entdeckte sie eine Stahlleiter, die bis zur Erde hinunterführte. Die
Kletterpartie zwischen den beiden Häusern war vollkommen unnötig gewesen.
Na gut, kein besonders schlauer
Gott, aber wenigstens ein Gott, der noch seine angeborene Nase hatte.
11 . KAPITEL
Waschen,
Spülen, Büßen
Die Tiere summten den
Hochzeitsmarsch, als Tommy den Supermarkt betrat. Tommy war noch etwas
mitgenommen von der Taxifahrt von Telegraph Hill hierher. Offenkundig war der
Taxifahrer - der einen nervösen Tick und die Angewohnheit hatte, in
unregelmäßigen Abständen und ohne ersichtlichen Grund »Die Arschlöcher!« zu
brüllen - der Meinung, wenn man eine Hügelkuppe nahm, müßten alle vier Räder
den Boden verlassen und in einem Funkenregen wieder landen, sonst könne man es
gleich lassen und statt dessen lieber dem Hügel ausweichen, indem man auf zwei
Rädern um eine Kurve schoß und seinen Fahrgast gegen die Türen schleuderte.
Tommy war schweißgebadet, und ihm war ein bißchen flau in der Magengegend.
»Da
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