Lange Zähne
Ich
treffe dich bei Sonnenuntergang an der Rezeption. Wenn du morgen früh
zurückkommst, werden die Papiere für meinen Wagen auf dem Bett liegen, in
Ordnung?«
»Was immer du sagst.« Tommy sah
benommen aus. Er starrte in seinen Schoß.
»Ich werde dir Geld für eine
Wohnung geben. Versuch, was Möbliertes zu finden. Und keine Fenster im
Schlafzimmer. Versuch, die Miete unter zweitausend pro Monat zu halten.«
Tommy sah nicht auf. »Was immer du
sagst.«
Ich habe die Kontrolle über seinen
Verstand, dachte sie bei sich. Genau wie in den Filmen, wo der Vampir die Handlungen
der Leute kontrolliert. Das will ich nicht. Ich will ihm nicht meinen Willen
aufzwingen. Das ist nicht fair. Er war schon hilflos genug, aber jetzt habe ich
ihn in einen Zombie verwandelt. Ich frage mich, ob überhaupt noch genug von ihm
übrig ist, daß er funktionieren kann, oder ob ich ihn völlig zerstört habe.
»Tommy«, sagte sie streng, »ich
möchte, daß du den Turm hinaufkletterst und herunterspringst.«
Er blickte auf. »Hast du den
Verstand verloren?«
Sie schlang ihre Arme um ihn,
küßte ihn und sagte: »Ach, ich bin ja so froh, daß ich dich nicht in eine
willenlose Marionette verwandelt habe.«
»Na, das kann ja noch kommen«,
erwiderte er.
Jody stand vor dem vierstöckigen
Apartmentgebäude an der Chestnut, beobachtete es und lauschte. In Kurts Wohnung
brannte kein Licht. Schon war es Kurts Wohnung, nicht Jodys, nicht ihre. In dem
Moment, in dem sie Tommy zu einem Rendezvous eingeladen hatte, hatte sie alle
Träume und Illusionen, die sie damit verband, ein Paar zu sein, auf Tommy
übertragen. So war es bei ihr immer. Sie war nicht gern allein.
Sie und Tommy waren im Telegraph
Park spazierengegangen, hatten von ihren vergangenen Leben erzählt und das
Thema eines gemeinsamen zukünftigen Lebens vermieden, bis es für Tommy an der
Zeit war, zur Arbeit zu gehen. Jody hatte von einer Telefonzelle aus ein Taxi
gerufen und Tommy mit einem Kuß und einem Versprechen am Supermarkt abgesetzt.
»Ich sehe dich dann morgen abend.«
Erst als sie am Motel aus dem Taxi
stieg, fiel Jody ein, daß die Fahrzeugpapiere und die Versicherungskarte für
ihren Wagen noch immer in Kurts Wohnung waren.
Warum habe ich den verdammten
Schlüssel nicht mitgenommen, als ich gegangen bin?
Sie spielte mit dem Gedanken zu
klingeln, aber die Vorstellung, Kurt ins Gesicht zu sehen, nach dem, was sie
ihm angetan hatte ... Nein, das konnte sie vergessen. Sie mußte ohne fremde
Hilfe in die Wohnung kommen. Der Weg über die beiden Feuertüren und die
Sicherheitsschlösser kam nicht in Frage.
Das Gebäude war
pseudo-viktorianisch, die Fassade verziert mit vorgefertigten, anschraubbaren Stukkaturen.
Jody versuchte sich vorzustellen, wie sie die Vorderseite des Gebäudes
hinaufkletterte, und erschauderte. Zu ihrer Erleichterung war das
Wohnzimmerfenster im vierten Stock ohnehin geschlossen. Dort ging's jedenfalls
nicht rein.
Es gab eine ein Meter fünfzig
breite Gasse zwischen Kurts Haus und dem nächsten. Das Schlafzimmerfenster war
auf dieser Seite. Hier gab es keine Stukkaturen als Fingerhalt.
Jody ging zu der Gasse und sah
nach oben. Das Schlafzimmerfenster stand offen. Die Wand war so glatt wie
polierter Stein. Jody schätzte den Abstand zwischen den beiden Gebäuden ab. Mit
ihren Händen gegen die eine Hausfront und ihren Füßen gegen die andere würde
sie sich die Mauer hinaufarbeiten können. Sie hatte in Yosemite gesehen, wie
Leute auf diese Art Felsschornsteine hinaufgeklettert waren. Erfahrene
Bergsteiger mit Ausrüstung. Keine Sekretärinnen, die einen Bogen um Rolltreppen
machten, aus Angst, sie könnten sich einen Absatz abbrechen.
Sie konzentrierte sich auf das
offene Fenster und lauschte. Die tiefen, regelmäßigen Atemzüge von zwei
Schlafenden.
»Du Dreckskerl.«
Sie sprang in die Luft und stützte
sich zwischen den beiden Gebäuden ab, knapp zwei Meter über dem Boden, die Füße
gegen das eine, die Hände gegen das andere Haus gestemmt. Jody war überrascht,
daß sie es geschafft hatte, aber so schwer war es auch gar nicht. Es war
überhaupt nicht schwer. Sie probierte aus, ob die Anspannung in ihren Armen und
Beinen ihr Gewicht halten würde, und es schien alles in Ordnung. Sie hielt sich
mit einer Hand fest, während sie sich mit der anderen ihren Rock über die
Hüften zog, dann wagte sie den ersten Schritt nach oben.
Hand, Fuß, Hand, Fuß. Als sie
innehielt, um nach unten zu schauen, war sie bereits direkt unter
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