Lange Zähne
schreiben, wenn niemand die Noten spielen oder den Text
verstehen kann? Ich bin einsam.
Cavuto kam durch die Doppeltür der
Notaufnahme und gesellte sich zu Rivera, der neben dem braunen Dienst-Ford
stand und eine Zigarette rauchte.
»Worum ging's?« fragte Cavuto.
»Wir haben schon wieder einen.
Genickbruch. In SOMA. Älterer Jahrgang, männlich.«
»Scheiße«, entfuhr es Cavuto,
während er die Wagentür aufriß. »Wie steht's mit dem Blutverlust?«
»Sie wissen es noch nicht. Dieser
ist noch warm.« Rivera schnippte seine Zigarette auf den Parkplatz und stieg in
den Wagen. »Hast du noch was aus LaOtis rausbekommen?
»Nichts Wichtiges. Sie haben nicht
ihre Wäsche gewaschen, sondern haben nach der Kleinen gesucht, aber an der
Ninja-Geschichte hält er fest.«
Rivera ließ den Motor an und sah
zu Cavuto. »Du hast ihn doch nicht in die Mangel genommen?«
Cavuto zog einen Füller aus seiner
Handtasche und hielt ihn hoch. »Mächtiger als das Schwert.«
Rivera zuckte innerlich zusammen
bei dem Gedanken, was Cavuto LaOtis mit dem Füller angetan haben könnte. »Du
hast doch keine Spuren hinterlassen, oder?«
»Jede Menge«, grinste Cavuto.
»Nick, du kannst so was nicht ...«
»Entspann dich«, fiel Cavuto ihm
ins Wort. »Ich habe nur ‚Vielen Dank für die Informationen! Ich wette, daß da
etliche Haftbefehle draus werden’ auf seinen Gips geschrieben. Dann habe ich
unterschrieben und ihm gesagt, ich würde es nicht wegkratzen, bevor er mir
nicht die Wahrheit erzählt hat.«
»Hast du es weggekratzt?«
»Nö.«
»Wenn seine Freunde das sehen,
bringen sie ihn um.« »Scheiß auf das Arschloch«, gab Cavuto zurück. »Der kann
mich mal mit seinen rothaarigen Ninja-Bräuten.«
Vier Uhr in der Früh. Jody schaute
zu, wie Neon-Bierreklamen summend Farbe über die taufeuchten Bürgersteige der
Polk Street warfen. Die Straße war verlassen, also spielte sie zum Zeitvertreib
Wahrnehmungsspiele - sie schloß die Augen und lauschte auf das leise Scharren
ihrer Turnschuhe, das beim Gehen von den Gebäuden widerhallte. Wenn sie sich
konzentrierte, konnte sie mehrere Blocks gehen, ohne die Augen aufzumachen. Sie
brauchte nur auf das Umspringen der Ampeln an den Ecken horchen und die
leichten Veränderungen des Luftzugs an den Kreuzungen fühlen. Wenn sie das
Gefühl hatte, gleich gegen etwas zu rempeln, schlurfte sie einfach, und der
Widerhall gab ihr vor ihrem geistigen Auge ein grobes Bild von den Wänden und
Masten und Kabeln um sie herum. Wenn sie ganz still stehenblieb, konnte sie
ihre Sinne ausschicken und in ihrem Kopf eine Karte der gesamten Stadt
erschaffen -Geräusche zogen die Linien, und Gerüche fügten die Farben ein.
Sie lauschte gerade auf die
Fischerboote, die am Kai eine Meile entfernt im Leerlauf dümpelten, als sie
Schritte hörte und die Augen aufschlug. Eine einzelne Gestalt war zwei Blocks
vor ihr um die Ecke gekommen und ging mit gesenktem Kopf die Polk entlang. Jody
trat in einen Hauseingang eines geschlossenen russischen Restaurants und
beobachtete den Mann. Er strahlte Trauer in schwarzen Wellen ab.
Sein Name war Phillip. Seine
Freunde nannten in Philly. Er war dreiundzwanzig. Er war in Georgia
aufgewachsen und mit sechzehn von zu Hause weggelaufen und nach San Francisco
gekommen, damit er sich nicht mehr als etwas ausgeben mußte, was er nicht war.
Er war nach San Francisco gekommen, um Liebe zu finden. Nach den anonymen
Abenteuern mit reichen älteren Männern, nach den Erlebnissen in den Bars und
Badehäusern und nachdem er herausgefunden hatte, daß er keine Mißgeburt war,
daß es andere Menschen wie ihn gab, nachdem die letzten Reste der Verwirrung
und der Scham sich gesetzt hatten wie roter Georgia-Staub, hatte er Liebe
gefunden.
Er hatte mit seinem Geliebten in
einem Apartment im Castro-Viertel gelebt. Und in jenem Apartment hatte er auf
der Kante eines gemieteten Krankenhausbetts gesessen, eine Spritze mit Morphium
aufgezogen und sie seinem Geliebten injiziert und dann seine Hand gehalten, bis
er starb. Später hatte er die Bettpfannen und die Infusionsständer und die
Maschine, die den Schleim aus der Lunge seines Geliebten absaugte, weggeräumt
und alles auf den Müll geworfen. Der Arzt hatte gesagt, er solle sie
aufbewahren - daß er sie noch brauchen würde.
Sie beerdigten Phillys Geliebten
am Morgen. Sie nahmen das bestickte Tuch, das über den Sarg gebreitet war, und
falteten es und reichten es ihm, wie man einer Soldatenwitwe die Flagge
reichte. Er durfte das Tuch
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