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Langoliers

Titel: Langoliers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ein.
     
9
     
    Fünfunddreißig Minuten später strömte allmählich wieder Tageslicht in die Hauptkabine von Flug Nr. 29. Drei Minuten später hätte es Vormittag sein können; fünfzehn Minuten später Mittag.
    Laurel sah sich um und bemerkte, dass Dinahs blicklose Augen offen waren.
    Aber waren sie vollkommen blicklos? Etwas war in ihnen, etwas Undefinierbares, das Laurel mit Zweifeln erfüllte. Sie spürte, wie eine seltsame Ehrfurcht sie überkam, ein Gefühl, das beinahe an Angst grenzte.
    Sie nahm sanft eine von Dinahs Händen. »Versuch nicht zu sprechen«, sagte sie leise. »Wenn du wach bist, Dinah, versuch nicht zu sprechen – hör nur zu. Wir sind in der Luft. Wir kehren zurück, und du wirst wieder gesund werden – das verspreche ich dir.«
    Dinah umklammerte mit ihrer winzigen Hand die von Laurel, der nach einem Moment klar wurde, dass das kleine Mädchen sie vorwärts zog. Sie beugte sich über die festgezurrte Bahre. Dinah sprach mit einer leisen Stimme, die Laurel wie ein maßstabgetreues Miniaturmodell ihrer einstigen Stimme vorkam.
    »Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Laurel. Ich habe bekommen … was ich wollte.«
    »Dinah, du solltest nicht …«
    Die blicklosen braunen Augen drehten sich zum Geräusch von Laurels Stimme. Ein schwaches Lächeln umspielte Dinahs blutigen Mund. »Ich habe gesehen«, sagte die dünne Stimme, die so zerbrechlich wie filigranes Glas klang. »Ich habe durch Mr. Toomys Augen gesehen. Am Anfang, und am Ende auch wieder. Am Ende war es besser. Am Anfang sah alles gemein und böse für ihn aus. Am Ende war es besser.«
    Laurel sah sie voll hilflosen Staunens an.
    Die Hand des Mädchens ließ die von Laurel los und griff unsicher nach deren Wange. »Wissen Sie, er war kein böser Mensch.« Sie hustete. Winzige Blutströpfchen spritzten aus ihrem Mund.
    »Bitte, Dinah«, sagte Laurel. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als könnte sie beinahe durch das blinde Mädchen sehen, was ein Gefühl erstickender, richtungsloser Panik mit sich brachte. »Bitte, Dinah, nicht mehr sprechen.«
    Dinah lächelte. »Ich habe Sie gesehen«, sagte sie. »Sie sind wunderschön, Laurel. Alles war wunderschön … sogar alles, was tot war. Es war so wunderbar zu … Sie wissen schon … einfach zu sehen.«
    Sie machte eine ihrer winzigen Atemzüge, ließ die Luft entweichen und machte dann einfach keinen weiteren mehr. Ihre blicklosen Augen schienen jetzt weit über Laurel Stevenson hinauszusehen.
    »Bitte atme, Dinah«, sagte Laurel. Sie nahm die Hände des Mädchens in ihre und küsste sie immer wieder, als könnte sie Leben in etwas hineinküssen, dessen Leben verwirkt war. Es war nicht gerecht, dass Dinah sterben sollte, nachdem sie sie alle gerettet hatte; kein Gott durfte ein solches Opfer verlangen, nicht einmal von Menschen, die irgendwie aus der Zeit selbst herausgetreten waren. »Bitte atme, bitte, bitte, bitte, atme.«
    Aber Dinah atmete nicht. Nach langer Zeit legte Laurel die Hände des Mädchens in ihren Schoß und sah starr in das blasse ruhige Gesicht. Laurel wartete, bis sich ihre eigenen Augen mit Tränen füllen würden, aber es kamen keine Tränen. Doch ihr Herz schlug voll tiefempfundener Traurigkeit, und ihre Gedanken hämmerten einen wütenden Protest: O nein! Nein, nicht gerecht! Das ist nicht gerecht! Mach es rückgängig, Gott! Mach es rückgängig, verdammt, mach es rückgängig, mach es einfach RÜCKGÄNGIG!
    Aber Gott machte es nicht rückgängig. Die Maschinen dröhnten konstant, die Sonne warf ein helles Rechteck auf Dinahs blutiges Reisekleidchen, und Gott machte es nicht rückgängig. Sie sah über den Gang und erblickte Albert und Bethany, die sich küssten. Albert berührte eine Brust des Mädchens unter ihrem T-Shirt sanft, zärtlich, beinahe religiös. Sie schienen eine fast rituelle Gestalt zu bilden, eine symbolische Darstellung des Lebens und dieses störrischen, unverwüstlichen Funkens, der das Leben selbst im Angesicht der grässlichsten Rückschläge und lächerlichsten Wendungen des Schicksals fortbestehen lässt. Laurel sah hoffnungsvoll von ihnen zu Dinah … und Gott hatte es nicht rückgängig gemacht.
    Gott hatte es nicht rückgängig gemacht.
    Laurel küsste still Dinahs Wange und hob dann die Hand zum Gesicht des kleinen Mädchens. Ihre Finger hielten einen Zentimeter von den Augen entfernt inne.
    Ich habe durch Mr. Toomys Augen gesehen. Alles war wunderschön … sogar alles, was tot war. Es war so wunderbar zu sehen.
    »Ja«, sagte

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