Langoliers
»Wir reisten in die Vergangenheit! Möglicherweise gerade nur fünfzehn Minuten … erinnern Sie sich, wie ich Ihnen das gesagt habe?«
Brian nickte, und Alberts Gesicht strahlte mit einemmal.
»Diesmal hat er uns in die Zukunft gebracht!« rief er. »Das ist es, nicht? Diesmal hat uns der Zeitriss in die Zukunft gebracht!«
»Ja, das glaube ich!« rief Bob zurück. Er grinste hilflos. »Und wir sind nicht in einer toten Welt herausgekommen – einer Welt, die sich ohne uns weiterbewegt hatte – wir sind in einer Welt gelandet, die darauf wartet, geboren zu werden! Einer Welt, die so frisch und neu wie eine Rose kurz vor dem Erblühen ist! Das passiert gerade, glaube ich. Das hören wir und spüren wir … das erfüllt uns mit dieser erstaunlichen, hilflosen Freude. Ich glaube, wir werden etwas sehen und erfahren, das kein lebender Mensch vor uns je erfahren hat. Wir haben den Tod der Welt gesehen; ich glaube, jetzt werden wir sehen, wie sie geboren wird. Ich glaube, die Gegenwart ist kurz davor, uns einzuholen.«
Wie die Farben aufgeleuchtet hatten und verblasst waren, so sank nun plötzlich das Vibrierende des Geräuschs. Gleichzeitig wurden die Stimmen, die darin gewesen waren, lauter, deutlicher, Laurel stellte fest, dass sie Worte hören konnte, sogar ganze Sätze.
»… muss sie anrufen, bevor sie beschließt …«
»… ich glaube wirklich nicht, dass diese Möglichkeit ernsthaft …«
»… Schäfchen im trockenen, wenn wir diese ganze Sache einfach an die Muttergesellschaft abgeben können …«
Das ertönte direkt vor ihnen in der Leere auf der anderen Seite der Samtkordel.
Brian Engle verspürte eine Art Ekstase in sich aufsteigen, die ihn mit einem Glühen von Staunen und Glückseligkeit erstickte. Er nahm Laurels Hand und grinste, während Laurel sie umklammerte und dann fest drückte. Neben ihm umarmte Albert plötzlich Bethany, die Küsse auf sein ganzes Gesicht regnen ließ und dabei lachte. Bob und Rudy grinsten einander entzückt an – wie alte Freunde aus vergangenen Zeiten, die sich zufällig in einem absurden Hinterland der Welt wiederbegegnet sind.
Über ihnen gingen die Neonlichter an der Decke an. Sie gingen nacheinander an, rasten von der Mitte des Raums wie ein sich ausdehnender Kreis aus Licht hervor, der den Rundgang überflutete und die nächtlichen Schatten wie eine Herde schwarzer Schafe vor sich hertrieb.
Plötzlich nahm Brian wie mit einem Paukenschlag Gerüche wahr: Parfüm, Rasierwasser, Zigarettenrauch, Leder, Seife, Putzmittel.
Einen Augenblick blieb das breite Rund der Halle noch verlassen, ein von den Stimmen und Schritten der Noch-nicht-ganz-Lebenden heimgesuchter Ort. Und Brian dachte: Ich werde sehen, wie es passiert; ich werde sehen, wie sich die fortschreitende Gegenwart in diese stationäre Zukunft einklinkt und sie mit sich zieht, so wie Haken an fahrenden Eilzügen Postsäcke von den Pfählen der Post mitrissen, die im Süden und Westen in verschlafenen Kleinstädten neben den Geleisen standen. Ich werde sehen, wie die Zeit selbst sich öffnet wie eine Rose an, einem Sommermorgen.
»Wappnet euch«, murmelte Bob. »Es könnte einen Ruck geben.«
Einen Sekundenbruchteil später verspürte Brian einen Schlag – nicht nur in den Füßen, sondern im ganzen Körper. Gleichzeitig war ihm, als hätte ihm eine unsichtbare Hand einen kräftigen Schubs gegeben, genau im Zentrum des Rückens. Er wankte nach vorne und konnte spüren, wie Laurel mit ihm wankte. Albert musste Rudy festhalten, damit dieser nicht umkippte. Rudy schien es nichts auszumachen; ein breites, albernes Grinsen verzerrte sein Gesicht.
»Sehen Sie!« keuchte Laurel. »O Brian – sehen Sie!«
Er sah … und merkte, wie ihm der Atem im Hals stecken blieb.
Das Terminalgebäude war voller Geister.
Ätherische, durchsichtige Gestalten schritten im geräumigen Hauptteil hin und her: Männer in Anzügen und mit Aktentaschen, Frauen in raffinierten Reisekleidern, Teenager in Jeans und T-Shirts, auf die Namen von Rockgruppen aufgedruckt waren. Er sah einen Geistervater, der zwei kleine Geisterkinder an den Händen führte, und durch sie hindurch konnte er weitere Geister erkennen, die auf den Stühlen saßen und durchsichtige Ausgaben von Cosmopolitan und Esquire und U.S. News and World Report lasen. Dann fuhren Farben in einer Art kometenhaftem Flackern in die Gestalten hinein, verfestigten sie, und die hallenden Stimmen gerannen zum prosaischen Stereomurmeln richtiger menschlicher
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