Langoliers
aufgefallen, dass er gerade aus dem kleinen Schrank genommen worden war, in dem er untergebracht ist, und dass die benützten Gläser von vor dem Start noch auf dem untersten Regal standen. Daraus leite ich deduktiv das folgende ab: Das Flugzeug ist ohne besondere Vorkommnisse gestartet, erreichte die Flughöhe, und der Autopilot wurde glücklicherweise eingeschaltet. Dann schaltete der Kapitän das Fasten-Seat-belt-Signal aus. Das muss etwa eine halbe Stunde nach Flugbeginn gewesen sein, wenn ich die Zeichen richtig deute – gegen ein Uhr. Als das Signal ausgeschaltet wurde, standen die Stewardessen auf und fingen mit ihrer ersten Tätigkeit an – Cocktails für schätzungsweise hundertundfünfzig Passagiere zu verteilen. Derweil programmierte der Kapitän den Autopilot, das Flugzeug auf eine Flughöhe von elfeinhalbtausend Metern zu bringen und Richtung Osten zu fliegen. Ein paar Passagiere – alles in allem elf von uns – sind eingeschlafen. Vom Rest dösen ein paar – aber nicht so tief, dass sie vor dem bewahrt worden wären, was kommen sollte –, alle anderen sind hellwach.«
»Bauen ihre Nester«, sagte Albert.
»Exakt! Bauen ihre Nester!« Jenkins machte eine Pause und fügte dann nicht ohne Melodramatik hinzu: »Und dann passiert es!«
» Was passiert, Mr. Jenkins?« fragte Albert. »Haben Sie eine diesbezügliche Vorstellung?«
Jenkins antwortete lange nicht, und als er es schließlich tat, war viel Spaß aus seiner Stimme verschwunden. Als er ihn hörte, wurde Albert zum ersten Mal bewusst, dass Robert Jenkins unter all seinem theatralischen Gehabe ebenso ängstlich war wie er, Albert. Er stellte fest, dass es ihm nichts ausmachte; irgendwie wirkte der ältere Kriminalschriftsteller im demnächst aus den Nähten gehenden Sportmantel dadurch realer.
»Das Geheimnis des verschlossenen Zimmers ist die unverfälschteste Geschichte der Deduktion«, sagte Jenkins. »Ich habe selbst ein paar geschrieben – mehr als ein paar, um ganz ehrlich zu sein –, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal selbst am größten Geheimnis um ein verschlossenes Zimmer teilhaben würde. Und doch habe ich genau diesen Eindruck.«
Albert sah ihn an, aber ihm fiel keine Antwort ein. Er musste an eine Sherlock-Holmes-Geschichte mit dem Titel ›Das gefleckte Band‹ denken. In dieser Geschichte war eine Giftschlange durch einen Lüftungsschacht in das berühmte verschlossene Zimmer gelangt. Der unsterbliche Sherlock hatte nicht einmal sämtliche Gehirnzellen aufwecken müssen, um diesen Fall zu lösen.
Aber selbst wenn die Gepäckfächer von Flug Nr. 29 mit Giftschlangen gefüllt – mit Giftschlangen voll gestopft – gewesen wären, wo waren die Leichen? Wo waren die Leichen? Angst überkam ihn wieder und schien von den Füßen in alle lebenswichtigen Organe zu strömen. Er überlegte sich, dass er sich in seinem ganzen Leben noch nie weniger wie der berühmte Revolvermann Ace Kaussner gefühlt hatte.
»Wenn es nur das Flugzeug wäre«, fuhr Jenkins leise fort, »könnte ich mir wahrscheinlich ein Szenario ausdenken – immerhin verdiene ich mit so etwas seit etwa fünfundzwanzig Jahren mein täglich Brot. Möchtest du so ein Szenario hören!«
»Klar«, sagte Albert.
»Nun denn. Sagen wir einmal, eine nebulöse Regierungsagentur hat beschlossen, ein Experiment durchzuführen, und wir sind die Testpersonen. Sinn dieses Experiments könnte sein, betrachtet man die Umstände, die Auswirkungen von ernstem geistigem und seelischem Stress auf eine Anzahl durchschnittlicher Amerikaner zu dokumentieren. Sie, die Wissenschaftler, die das Experiment leiten, mischen dem Sauerstoffsystem des Flugzeugs eine Art geruchlose hypnotisierende Droge bei …«
»Gibt es so etwas?« fragte Albert fasziniert.
»Das gibt es wahrhaftig«, sagte Jenkins. »Zum Beispiel Diazalin. Oder Methoprominol. Ich kann mich noch erinnern, wie Leser, die sich selbst für ›aufgeschlossen‹ hielten, über die Fu-Manchu-Romane von Sax Rohmer gelacht haben. Sie bezeichneten sie als reißerische Melodramen der übelsten Sorte.« Jenkins schüttelte langsam den Kopf. »Und heute leben wir dank biologischer Forschungen und der Paranoia von Agenturen der Regierung wie CIA und DIA in einer Welt, die Sax Rohmers schlimmster Alptraum sein könnte.
Diazalin, das eigentlich ein Nervengas ist, wäre am besten. Es soll angeblich sehr schnell gehen. Wenn es in der Luft freigesetzt wird, schlafen alle ein, außer dem Piloten, der unkontaminierte
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