Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens

Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens

Titel: Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gütersloher Verlagshaus
Vom Netzwerk:
Körpergewicht. Sie selbst führte zwar ihren gelegentlichen Portwein- und reichhaltigen Olivenölkonsum als Grund für ihr hohes Lebensalter an, doch das praktizieren in Südfrankreich eigentlich alle. Sie fuhr zwar noch mit 100 Jahren Fahrrad, doch das tat sie nicht aus sportivem Tatendrang, sondern weil sie es immer schon so
machte. Genauso, wie sie auch immer schon zur Zigarette griff. Zwar nicht als Kettenraucherin, aber schon als bekennende Tabakkonsumentin. Erst mit 119 Jahren verabschiedete sie sich vom Nikotin. Nicht etwa, weil sie es dann endlich für schädlich hielt. Ihre Sehkraft hatte mittlerweile schlicht dermaßen nachgelassen, dass sie sich selbst keine Zigarette mehr anzünden konnte – und sie war zu stolz, um andere darum zu bitten.
    Damit sind wir auch schon bei einem Punkt, der vermutlich entscheidend für Jeannes extremes Lebensalter war. Nämlich ihr unverrückbarer Wille, so lange wie möglich autark zu bleiben. Sie blieb bis zu ihrem 110. Lebensjahr in ihrem Appartement und zog nur deshalb ins Heim, weil sie einmal beim Kochen wegen ihrer schlechten Augen fast die Küche abgefackelt hatte.
    Zu ihrem Willen zur Autarkie gehörte auch ihre Resilienz. »Es hat keinen Sinn, sich über etwas zu grämen, das man nicht ändern kann«, sagte sie einmal. Es gibt Menschen, die bergeweise buddhistische Literatur wälzen müssen, um auf diesen Satz kommen. Bei Jeanne kann man wohl davon ausgehen, dass er schon immer ihrer persönlichen Lebenshaltung entsprach. Als sie sich im Alter von 115 Jahren zwei Knochenbrüche in den Beinen zuzog, setzte sie sich ohne Murren und Jammern in einen Rollstuhl. Am Ende konnte sie kaum noch sehen und nur noch mäßig hören, was sie zwar in der Tat »ärgerlich« fand, aber keinesfalls zum Verzweifeln.
    Auch Schicksalsschläge wie die Verluste von Tochter, Enkelsohn und Ehemann trieben Jeanne weder in die Isolation noch in die fatalistische Abhängigkeit von jemand anderem, sondern sie lenkte ihren Blick weiter nach vorn. Nach dem Tod der Tochter nahm sie deren Enkelsohn, nach dem des Mannes ihren Bruder zu sich. Das ist nichts Spektakuläres, aber es zeigt zum einen, dass Jeanne sich nicht unterkriegen ließ, zum anderen, dass ihr die Sorge um andere wichtiger war als das Klagen über das eigene Leid. Diese Einstellung, sich
selbst zu reduzieren und erst den anderen Menschen im Blick zu haben, war übrigens auch eine Quelle für jenen trockenen Humor, den Jeanne bis ins hohe Alter an den Tag legte. Als ihre Heimatstadt zu einem ihrer späten Geburtstage eine Feier ausrichtete, verabschiedete sich einer der Gäste mit der wenig galanten Floskel: »Bis nächstes Jahr, vielleicht.« Worauf Jeanne trocken konterte: »Warum nicht? Du siehst doch gar nicht so schlecht aus.«
    Das Bemühen um Autarkie führt freilich oft dazu, dass der betreffende Mensch bewährte Strukturen und Rituale seines Lebens auflöst, weil sie ihm das Gefühl geben, in einem Gefängnis aus ausdrücklichen oder unterschwelligen Vorschriften eingesperrt zu sein. Jeanne hatte damit jedoch keine Probleme. Sie hatte niemals das Bedürfnis, aus ihrer kleinen Welt in Arles ausbrechen zu wollen, nicht einmal den Wunsch nach einem Wohnungswechsel. In dieser Hinsicht war sie wie Harriet, die legendäre Schildkröte von Galapagos: Sie war immer zufrieden, wo sie gerade war.
    Auch der Alltag war bei Jeanne wenig abwechslungsreich. Sie hatte einen Mann in ihrem langen Leben, mehr nicht. Ihr Essen bestand, wie sie einmal einem Reporter mitteilte, »aus dem, was ich kochen kann«. Sie stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf und ging jeden Abend um die gleiche Zeit ins Bett, nahm immer zur gleichen Zeit ihre Mahlzeiten ein. Weil sie ja in ihrem Leben nie sonderlich arbeiten musste, hätte sich Jeanne eigentlich erlauben können, auch einmal von ihrem Tagesrhythmus abzuweichen, doch das tat sie nicht. Es ist eben nicht die regelmäßige Arbeit selbst, die zu einem langen Leben führt, sondern ihr disziplinierender Einfluss auf den Menschen. Jeanne Calment hatte das nicht nötig: Sie war auch ohne Arbeit diszipliniert genug. Wer das kann, muss nicht – wie etwa auf Sardinien, wo die meisten über hundertjährigen Männer der Welt leben – jeden Tag bis zu seinem Lebensende als Schafhirte auf den Wiesen stehen, um steinalt zu werden.
    Insgesamt war der Alltag von Jeanne Calment noch unspektakulärer
als der von Immanuel Kant, und das will was heißen. Vielleicht war er ein wenig abwechslungsreicher als der von

Weitere Kostenlose Bücher