Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Harriet, doch eine Schildkröte kann man in dieser Hinsicht auch leicht übertrumpfen. Turbulent wurde es in Jeannes Leben eigentlich erst, als sie aufgrund ihres Alters berühmt wurde. Doch auch das bewältigte sie mit ihrem trockenen Humor: »Ich habe 110 Jahre gewartet, um berühmt zu werden – und das werde ich jetzt auch ein wenig ausnutzen.«
Jeannes Leben verlief ohne Höhepunkte, und sie wollte auch gar nicht viele davon haben. Ersteres teilt sie mit vielen anderen Menschen, Letzteres jedoch nicht. Denn auch wenn viele Menschen so alt werden wollen wie Jeanne Calment – nur die wenigsten wollen auch solch ein Leben führen wie sie.
Wer will schon wie ein alter Preuße sein?
Es entsprang einem Zufall, dass die Welt überhaupt etwas von Jeanne Calment hörte. Einige Journalisten waren 1988 nach Arles gekommen, um über Vincent van Gogh und seinen Aufenthalt in dem südfranzösischen Städtchen zu berichten. Bei den Recherchen erzählte man ihnen, dass es noch eine Frau gebe, die den Maler, dessen Tod sich 1990 zum hundertsten Mal jähren sollte, persönlich gekannt haben soll. Das Erstaunen der Journalisten war natürlich groß, als sie dann der 113-jährigen Jeanne gegenübersaßen. Man muss also davon ausgehen, dass ihr Schicksal unbekannt geblieben wäre, hätte nicht ausgerechnet in ihrem Heimatort einer der größten Maler aller Zeiten gelebt. Arles hätte dann die älteste Frau aller Zeiten gehabt, ohne dass die Welt etwas davon erfahren hätte.
Das wiederum ist kein Zufall. Denn es gehört zu den wesentlichen Merkmalen eines überdurchschnittlich alten Menschen, dass sein Leben eher unauffällig ist und seine Umwelt nur wenig Notiz von ihm nimmt. Nur selten erreicht jemand
das Methusalem-Alter, wenn sein Leben spannend, aufregend und im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit verläuft. Selbst bei Ausnahmen wie dem Entertainer Johannes Heesters (108 Jahre), dem Philosophen Bertrand Russell (fast 98) oder dem Physiker Friedrich Hund (101) fällt auf, dass sie in besonderem Maße mit Merkmalen ausgestattet sind, die in heutiger Zeit als langweilig gelten: Disziplin, Pflichtbewusstsein, Ordnungsliebe, Beharrlichkeit, Zähigkeit, Zuverlässigkeit und Bodenständigkeit. Diese Sekundärtugenden betitelt man auch gern als »preußische Tugenden«, womit dann ihr negatives Image endgültig besiegelt ist. Denn wer will schon charakterlich mit einem Staat in Verbindung gebracht werden, der gern als Inbegriff für klotzigen Militarismus und hohlköpfige Pflichterfüllung gehandelt wird?
Es soll hier nicht der Platz sein, dies Bild gerade zu rücken, beispielsweise indem man die philosophischen und musikalischen Interessen des »alten Fritz« und damit die nicht-militärischen, kulturellen Aspekte des preußischen Königreichs beleuchtet. Aber man muss sich schon fragen, warum dessen Tugenden heute ein so schlechtes Image haben. Denn das alte Preußen zog keineswegs öfter in Kriege und Schlachten als das aufklärerische Frankreich, ganz zu schweigen davon, dass einer der großen Aufklärer, nämlich Immanuel Kant, ein waschechter Preuße war. Vom dumpfen Gehorsam und der menschenverachtenden Endlösungsmentalität des Nationalsozialismus war man zu dieser Zeit ebenfalls noch weit entfernt, und unter Friedrich II. wurden Folter und Leibeigenschaft abgeschafft. Warum also heute diese Abneigung gegenüber den »preußischen Tugenden«?
Darauf gibt es im Wesentlichen zwei Antworten, wobei die eine einen historischen und die andere einen psychologisch-hedonistischen Hintergrund hat. Historisch begründet sich die Abkehr von den Sekundärtugenden damit, dass sie im Anschluss der 68er-Bewegung als wertfreie und damit potentiell kriminelle Charaktereigenschaften gebrandmarkt wurden. So
klagte der Schriftsteller Carl Amery: »Ich kann pünktlich zum Dienst im Pfarramt oder im Gestapokeller erscheinen; ich kann in Schriftsachen ›Judenendlösung‹ oder Sozialhilfe penibel sein; ich kann mir die Hände nach einem rechtschaffenen Arbeitstag im Kornfeld oder im KZ-Krematorium waschen.« Und Oscar Lafontaine polemisierte im Jahr 1982, als aus den Reihen der SPD zur Bündnistreue gegenüber der USA aufgefordert wurde: »Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit (...) Das sind Sekundärtugenden (...) Damit kann man auch ein KZ betreiben.« Die preußischen Tugenden, so der Tenor, taugen also nicht als moralische Leitinstanz, insofern man mit ihnen alles vorantreiben
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