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Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens

Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens

Titel: Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gütersloher Verlagshaus
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entweder sagen, dass er wohl mit einem mäßigen Befriedigend bestanden hat, was sich dann später als Wahrheit herausstellt, oder er sollte sagen, dass die Arbeit voll daneben gegangen ist, was sich dann später als unwahr herausstellt. Das klingt etwas kompliziert, aber es ist ohnehin nicht einfach, im sozialen Miteinander zu punkten.
    Außerdem sollte man bedenken, dass man als ambitionierter Realist möglicherweise Respekt, aber nicht unbedingt viele Sympathien genießt. Denn Realismus steht für Begriffe wie »solide Planung«, »geerdet« und »auf dem Teppich bleiben«,
und die versprechen nur wenig Spaß. Denn wer ist spannender? Derjenige, der nur an die nächste Klausur denkt und sich dort 50:50-Chancen ausmalt, oder derjenige, der davon träumt, später als Doktor der Philosophie die Welt mit einer neuen Wertehierarchie zu versorgen? Derjenige, der erst einmal seine Eltern wegen seines ersten eigenen Sofas anpumpt und sich schon einen Rückzahlungsplan gezimmert hat, oder derjenige, der das Studium abgebrochen und sich stattdessen bei der Bank ein Millionendarlehen für seine Start-up-Firma besorgt hat? Derjenige, der sich jeden Mittag aus seiner Brotdose versorgt, oder derjenige, der abends ein Vier-Gänge-Menü auf den Tisch zaubert, dessen Rezept er erst zwei Stunden zuvor bei Google gefunden hat?
    Utopistische Träumer bringen uns mit ihren Ideen und Plänen möglicherweise zum Schreien, doch das ist ja immerhin etwas. Die soliden Realisten hingegen bringen uns allenfalls zum Gähnen, und das ist kurz vor dem Nichts. Doch dieses Schicksal teilen eigentlich alle Persönlichkeitsmerkmale, die zu einem langen Leben führen. Sie sind weder angesagt noch perspektivisch, weder spannend noch sexy. Sie sind einfach nur: unendlich langweilig.

6. Unendlich öde? Der langlebige Langweiler und sein Imageproblem
    Die beiden trafen sich in dem Geschäft ihres Onkels, und unterschiedlicher als bei ihnen konnten zwei Leben kaum sein. Er: ein holländischer Künstler mit roten Haaren, ungepflegt und verkatert. Nach Arles gekommen, weil ihn »die blauen und heiteren Farben« des französischen Südens so faszinierten, aber es gab bis dahin niemanden, den seine Werke faszinierten, und deswegen soff er literweise Absinth. Sie: eine 13-jährige Teenagerin aus einer wohlhabenden Familie der Bourgeoisie, für die der Holländer so ziemlich alles repräsentierte, was man zu vermeiden suchte. Sie wusste, dass Vincent van Gogh sich wenige Monate zuvor ein Ohr abgeschnitten und es einer Nutte geschenkt hatte. Den dabei entstandenen Schaden versuchte er jetzt durch eine Mütze zu verdecken, doch das änderte nur wenig an seinem erbärmlichen Gesamteindruck. Für das Mädchen jedenfalls stand fest: Der rote Holländer war ungehobelt, ungepflegt und dearrangiert bis irre. Kein Mann, mit dem sich eine angehende Frau beschäftigen wollte. Allerdings sollte eben dieser Mann, obwohl er sich schon mit 37 Jahren das Leben nahm, die Kulturgeschichte stürmen, und es gibt bis heute kaum einen Künstler, der berühmter wäre als er. Das Mädchen hingegen kennen nur wenige, und wenn, dann nicht wegen seiner Taten oder Werke, sondern weil es viele Jahrzehnte später zu einem historischen Methusalem werden sollte: Jeanne Louise Calment starb nämlich am 4. August 1997 – im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen.
    Auf der einen Seite das chaotische, selbstzerstörerische, bis zum Exzess gleichsam arbeitende wie saufende Genie; auf der anderen das biedere Mädchen aus der Kleinstadt, das zwar
nie sonderlich hart arbeitete, aber trotzdem selbstdiszipliniert blieb bis zum Schluss – besser kann man nicht darstellen, warum die einen Menschen früher und die anderen später versterben. Über Vincent van Gogh wurden ungezählte Biografien und Filme produziert, für die niemals der Stoff ausging, denn sein Leben war dramatisch, rasant und intensiv. Über Jeanne Calment wurde eigentlich erst berichtet, nachdem sie 120 Jahre alt geworden war. Aber selbst da reichte es nicht für eine Biografie, die ergiebig genug für einen Hollywood-Film gewesen wäre. Denn in ihrem Leben passierte nicht gerade viel, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie wir ein ereignisreiches Leben verstehen würden. Aber gerade deshalb dauerte es so unglaublich lange.
    Das lange, ereignislose Leben der Jeanne Louise Calment
    Tolstoi beendete gerade seine Anna Karenina und Paris sollte wenig später die Uraufführung von Bizet’s Carmen erleben, als Jeanne Calment am 21. Februar 1875

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