Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Selbstverwirklichung eher dazu führen, dass man die Parteibücher wechselt und ein Bundestagsmandat nach dem anderen niederlegt. Wer stets das Notwendige tut und sich nach seinem Lebensplan orientiert, der spart Kraft und wird alt, während derjenige, der immer wieder und spontan allem Möglichen hinterher hechelt, Energien verschleudert und mit Krankheiten und einem frühen Tod rechnen muss. Nichtsdestoweniger ist es die letzte Alternative, die derzeit mehr Anhänger hat, während preußische Tugenden nach wie vor als langweilig gelten und bis auf weiteres wohl auch als langweilig gelten werden.
Dies alles verführt natürlich zur Hypothese: Entweder man hat Spaß und stirbt jung oder aber man hat keinen Spaß und stirbt spät. Oder auch, einer alten Rock’n-Roller-Maxime folgend: »Have fun, die young« oder »Keep bored, die old«. Das klingt auf den ersten Blick zwar logisch, ist aber auf den zweiten
nichts anderes als eine fadenscheinige Rechtfertigung für alle, die zwar im Grunde alt werden wollen, aber partout nicht den entsprechenden Lebensstil hinbekommen. Sie können sich dann einreden, dass ihr kurzes Leben wenigstens spaßig und alle Male besser sei als ein langes Leben in Langeweile. Doch darin stecken gleich zwei Trugschlüsse: erstens, dass ein kurzes, hedonistisches Leben automatisch Spaß macht, und zweitens, dass ein langes, diszipliniertes Leben automatisch langweilig ist.
Langweiler leben länger – und haben Spaß
Der Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus von Hippo sagte einmal: »Wenig brauchen ist besser als viel haben.« Er brachte damit bereits im vierten Jahrhundert ziemlich punktgenau zum Ausdruck, dass ein hedonistischer Mensch, der möglichst alle seine Bedürfnisse befriedigen will, selbst wenn er über die Mittel dazu verfügt, ärmer dran ist als jemand, der nur wenige Bedürfnisse hat. Doch eine psychologische Erklärung dafür lieferte Augustinus, der übrigens mit 76 Jahren für damalige Verhältnisse ein geradezu biblisches Alter erreichte, noch nicht. Dies geschah erst gut 14 Jahrhunderte später durch seinen Philosophenkollegen Arthur Schopenhauer.
Dessen Modell sieht im Wesentlichen so aus: Jeder Mensch hat Bedürfnisse, die er befriedigen möchte. Kann er dies nicht, empfindet er es als schmerzhaften Mangel. Nun kann er natürlich versuchen, so viele Bedürfnisse wie möglich zu befriedigen. Der Haken daran: Ist erst einmal ein Bedürfnis befriedigt, entsteht ein neues, und der schmerzhafte Mangel beginnt von neuem. Entsteht aber doch kein neues, ergibt sich ein Zustand der – ebenfalls schmerzenden – Langeweile. Das Leben schwingt also, wie Schopenhauer am Ende feststellt, »gleich einem Pendel, hin und her zwischen dem Schmerz
und der Langeweile.« Weswegen die Befindlichkeit eines wollenden Menschen eigentlich nur als ewig währendes Leiden beschrieben werden kann: Er leidet entweder daran, dass er etwas will; oder aber, er leidet an Langeweile, weil er alles bekommen hat, was er wollte. Keine schönen Aussichten, und es wundert nicht, dass Schopenhauer als Pessimist in die Philosophiegeschichte eingegangen ist.
Sein Modell des wollenden und dadurch leidenden Menschen ist historisch unabhängig gemeint, es soll also auf die Antike ebenso zutreffen wie auf das Internet-Zeitalter. Nichtsdestotrotz gewinnt es für die heutige hedonistische Konsumgesellschaft noch mehr an Schärfe. Denn wenn nicht nur nahezu alle Bedürfnisse befriedigt werden können, sondern auch noch zusätzliche Bedürfnisse geschaffen werden, um den Verkauf von Konsumgütern anzutreiben, bedeutet dies aus Schopenhauerscher Sicht eine Zuspitzung des Leidens, insofern wir bei den Menschen einen hektischen Wechsel zwischen exzessiver Bedürfnisbefriedigung und exzessiver Langeweile sehen. Das ist nicht unbedingt das, was man mit Glück in Verbindung bringt. Wir können also festhalten: Wer fortwährend nach Spaß-Kicks durch das Befriedigen aller Bedürfnisse sucht, wird am Ende gerade den Spaß am allerwenigsten, dafür umso mehr Mangel und Langeweile finden. Ein hedonistisches Leben ist also nicht nur kurz, sondern auch noch arm.
Der konsequenteste Ausweg aus diesem Dilemma wäre sicherlich, den Willen und somit sämtliche Bedürfnisse konsequent zum Erlöschen zu bringen. Doch das funktioniert nicht, weil wir ohne essenzielle Bedürfnisse wie Hunger, Durst und Wärmeausgleich sterben würden. Unser Streben kann also nur dahin gehen, möglichst wenige Bedürfnisse zu haben. Dazu gehört,
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