Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
kann: die Freiheitsbewegung Mahatma Gandhis genauso wie den Vernichtungsfeldzug Adolf Hitlers, den Aufbau eines Hospitals in Burkina Faso genauso wie die Leitung einer Teppichfabrik in Indien, wo man Kinder ausbeutet. Man müsse daher, so die Forderung, weniger die Sekundär-, als die Primärtugenden fördern, wobei man da im Anschluss an die 68er vor allem an postmaterialistische Werte dachte wie Solidarität, Rücksicht und Gütervergemeinschaftung sowie Kreativität, Spontaneität und Selbstverwirklichung.
Das Problem der ersten drei Begriffe ist jedoch, dass sie generell implizieren, dass ich den anderen Menschen etwas von mir abgeben müsste. Im Fall der Solidarität meine Unterstützung, im Fall der Rücksicht meinen Vorrechtsanspruch und im Fall der Gütervergemeinschaftung sogar etwas von meinem Eigentum. Solche Forderungen haben in der Weltgeschichte traditionell nur eine geringe Halbwertzeit, weswegen aus den meisten 68ern brave Mittelstandsbürger und aus den aufrührerischen Hausbesetzern von einst bestandsbewahrende Hausbesitzer von heute wurden. Zwar haben Solidarität, Rücksicht und Gütervergemeinschaftung nach wie vor einen guten Klang, doch mehr auch nicht. Denn Beispiele wie Finanzkrise, Klimawandel und die allerorten schwelenden Kriege zeigen nur allzu deutlich, dass der Mensch nach wie vor
das macht, was er schon immer am besten konnte: gnadenlos seine eigenen Interessen durchsetzen. Wobei dies nicht als moralinsaure Anklage gemeint ist, sondern als Festhalten einer allzu menschlichen Eigenschaft. So machte sich auch Immanuel Kant trotz seiner Bemühungen um eine unverrückbare Moral keine Illusionen über die Never-Ending-Story des Egoismus:
»Von dem Tage an, da der Mensch anfängt, durch ›Ich‹ zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoismus schreitet unaufhaltsam fort.«
Dies bedeutet aber gleichzeitig auch, dass für das andere Dreigestirn der 68er-Bewegung – Kreativität, Spontaneität und Selbstverwirklichung — umso bessere Perspektiven bestehen. Denn sie fordern geradezu eine Entfaltung des Egos, und dies entspricht exakt dem Profil unserer freiheitlichen, aber auch hedonistischen Konsumgesellschaft, die durch die tatsächlichen oder eingebildeten Bedürfnisse des Individuums befeuert werden. Während also die altruistischen Motive der 68er-Bewegung weitgehend wieder verschwunden sind, stehen ihre egoistischen Antriebsmotoren mehr denn je unter Dampf.
Womit wir bei der psychologisch-hedonistischen Antwort auf die Frage sind, weswegen Sekundärtugenden heute allenfalls Außenseiterstatus genießen. Wenn ich nämlich für den Menschen fordere, dass er sich selbst entwickelt, bedeutet dies, dass er alles aus sich machen soll, was möglich ist – was in einer Konsumgesellschaft freilich in erster Linie bedeutet, so viel wie möglich zu konsumieren. Er soll möglichst viel essen und anschließend im Fitness-Studio seine Fettpolster abtrainieren; er soll im Supermarkt seinen spontanen Gelüsten nachgeben und dafür mit seiner Kreditkarte bezahlen; er soll auf der Karriereleiter unaufhörlich nach oben klettern und sich zum Ausgleich dafür einen All-Inclusive-Urlaub am Mittelmeer gönnen, wie überhaupt Männer und Frauen sämtliche Möglichkeiten in Beruf und Familie ausloten sollen, indem sie
schuften bis zum Umfallen und ihr dabei verdientes Geld in der Luxus-Kita versenken. Dies aber widerspricht den preußischen Tugenden, bei denen es ja darum geht, alles zu tun, was nötig ist. Mit ihnen wäre man beim Essen und im Sport diszipliniert genug, sodass man kein Fitness-Studio braucht; mit ihnen erledigt man binnen zehn Minuten und ohne Extra-Schlenker den Supermarkteinkauf; mit ihnen plant man Beruf und Familie realistisch genug, sodass man weder All-Inclusive-Urlaube noch Luxus-Kitas braucht. Wir haben also auf der einen Seite eine Gesellschaft, in der die Entfaltung des persönlich Möglichen an erster Stelle steht, und auf der anderen Seite die Sekundärtugenden, in denen das persönlich Notwendige geregelt wird. Das beißt sich, lässt sich nicht wirklich zur Deckung bringen. Es ist daher kein Wunder, dass Sekundärtugenden heute als langweilig, spießig und unattraktiv gelten.
Ebenso wenig verwunderlich ist aber, dass Helmut Schmidt trotz seines hohen Tabakkonsums gute Chancen auf einen hundertsten Geburtstag hat. Denn die von ihm propagierten Tugenden führen genau da hin, während Kreativität, Spontaneität und
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