Lanzarote
Brief, in schwarzer Tinte, mit einer kleinen, deutlichen, sorgfältigen Schrift.
Cher Monsieur,
lassen Sie mich Ihnen zunächst danken, dass Sie mich in diesen Tagen wie ein menschliches Wesen behandelt haben. Ihnen mag das selbstverständlich erscheinen; mir nicht. Sie wissen wahrscheinlich nicht, wie furchtbar es ist, Polizist zu sein; Ihnen ist nicht klar, dass wir eine Gesellschaft bilden, eine, die in ihren eigenen Ritualen gefangen ist und von der übrigen Bevölkerung misstrauisch, ja, abergläu
bisch beäugt wird. Wahrscheinlich wissen Sie noch weniger, wie furchtbar es ist, Belgier zu sein. Sie ahnen nicht, wie viel Gewalt – verborgene und offene – , wie viel Misstrauen und Furcht wir in den elementarsten täglichen Beziehungen aus gesetzt sind. Fragen Sie nur einmal versuchshalber auf der Straße in Brüssel einen Passanten nach dem Weg; das Ergeb nis wird Sie überraschen. Wir bilden in Belgien nicht mehr das, was man üblicherweise ein Gemeinwesen nennt; uns verbindet nichts mehr miteinander außer Gedemütigtsein und Angst. Ich weiß, diese Tendenz ist in allen europäischen Nationen zu beobachten; aber aus verschiedenen Gründen (die ein Historiker wahrscheinlich genauer benennen könn te) hat der Zerfallprozess in Belgien ein besonderes Stadium erreicht.
Lassen Sie mich auch nochmals sagen, dass Ihr Verhalten mit Ihren deutschen Freundinnen mich keineswegs scho ckiert hat. In den beiden letzten Jahren unserer Ehe haben meine Frau und ich sehr oft Lokale besucht, die für »toleran te Paare« gedacht sind, wie man so sagt. Sie hatte dabei ih ren Spaß, und ich auch. Aber nach ein paar Monaten – und ich weiß nicht genau warum – hat sich das zum Schlechten entwickelt. Was anfang ein fröhliches, von allen Tabus be freites Fest war, wurde nach und nach zu einer gradlosen, tierischen Übung, etwas Kaltem, zutiefst Narzisstischem. Wir haben einfach nicht rechtzeitig aufzuhören gewusst. Am Endehaben wir Situationen erleben müssen, in denen wir angesichts unseres Alters nur noch als passive Zuschauer an Zurschaustellungen wahrer Sexmonster teilnehmen konnten. Wahrscheinlich hat sogar genau das meine Frau – eine intel ligente, sensible, äußerst kultivierte Person – dazu gebracht, sich den scheußlichen, rückständigen Lösungen des Islams zuzuwenden. Ich weiß nicht, ob es unweigerlich so hätte kommen müssen; aber wenn ich darüber nachdenke – und das tue ich jetzt seit fünf Jahren – kann ich immer noch nicht erkennen, wie ich es hätte vermeiden können. Die Sexualität ist ein machtvoller Trieb, so sehr, dass jede Beziehung, die auf sie verzichtet, gezwungenermaßen unvollständig bleiben muss. Es gibt eine Körperbarriere, genauso wie eine Sprach barriere. Als Männer sind wir beide miteinander über einen begrenzten Austausch nicht binausgekommen, und ich verstehe sehr gut, was Sie haben erreichen wollen, als Sie eine Begegnung zu mir mit Pam und Barbara herbeigeführt haben; ich verstehe es und danke Ihnen dafür. Bedauerli cherweise war es für mich bereits etwas zu spät. Das Drama tische an Depressionen ist, dass sie jede Initiative zu sexuel len Handlungen unmöglich machen, dabei könnten einzig und allein sie diese fürchterlichen Angstgefühle mildern. Sie machen sich keinen Begriff, wie schwer es mir allein schon gefallen ist, diese Reise anzutreten.
Ich weiß, was jetzt kommt, wird Ihnen unbehaglich sein, und Sie werden sich wahrscheinlich teilweise verantwortlich dafür fühlen. Aber das ist nicht der Fall, Sie haben wirklich alles getan, was in Ihrer Macht stand, um mich zu einem »normalen« Leben zurückzuführen. Kurz gesagt, ich werde mich den Azraelisten anschließen. Ich muss dazu sagen, dass ich schon in Belgien Kontakt mit ihren Vertretern hatte; aber ich wusste nicht, dass Lanzarote für sie ein so wichtiger Ort ist, und irgendwie hat diese Reise jetzt den Ausschlag dafür gegeben, dass ich diesen Schritt tue. Ich weiß, westliche Men schen interpretieren den Beitritt zu einer »Sekte« – insofern er den Verzicht auf einen Teil der individuellen Freiheiten beinhaltet – immer als dramatische persönliche Niederlage. Ich möchte versuchen, Ihnen zu erklären, warum mir diese Tendenz in diesem Fall ungerechtfertigt erscheint. Was dür fen wir vom Leben erhoffen? Ich glaube, dieser Frage können wir uns nicht entziehen. Jede Religion versucht, sie auf ihre Weise zu beantworten, und auch nichtreligiöse Menschen stellen sie sich, und zwar mit fast denselben
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