Lanzarote
wurde er mal verrissen, mal als künftiger Klassiker gepriesen. Und jetzt kam noch, ziemlich unerwartet, ein Literaturpreis: der Prix Novembre, in dessen Jury unter anderen Mario Vargas Llosa und Julian Barnes sitzen.
Doch dieser Roman braucht keinen Literaturpreis mehr, um ins Weihnachtsgeschäft zu kommen. Rasch erkletterte er die vordersten Plätze der französischen Bestsellerlisten. Der Aufruhr um ihn war so gross, dass er keinem lesenden Franzosen entgehen konnte. In „Les particules élémentaires“ ist fast kein Thema ausgelassen, das skandalträchtig ist: Es gibt deftige Sexszenen, das Szenario einer fortschreitenden Gentechnik wird als positive Utopie ausgemalt, und nebenbei rechnet Houellebecq noch mit der 68er Generation ab.
Im Namen der freien Kunst
Ein Gentechniker als Hauptperson eines Romans und eine geklonte Menschheit als Lösung aller gesellschaftlichen Probleme - das ging nicht nur der literarischen Zeitschrift „Perpendiculaire“ zu weit. Es sei nicht auszuschliessen, dass diese Ideen realen Standpunkten des Autors entsprächen, lautete die Begründung für Houellebecqs Ausschluss aus dem Redaktionsteam. Jetzt ist die französische Öffentlichkeit gespalten in diejenigen, die Houellebecq im Namen der künstlerischen Freiheit verteidigen, und diejenigen, welche die im Roman entdeckten politischen Aussagen verdammen.
Um den literarischen und ästhetischen Wert des Romans geht es in der Diskussion selten. Symptomatisch die konservative Tageszeitung „Le Figaro“. Sie bezeichnete „Les particules élémentaires“ zunächst als endloses Suhlen im sexuellen Elend - um den Autor wenige Wochen später als Opfer des linksintellektuellen Terrors zu rehabilitieren. Überaus widersprüchlich ist die Haltung von Michel Houellebecq selbst: Er hat das Chaos perfekt gemacht, indem er abwechselnd weiterprovozierte und dann wieder behauptete, mit Politik habe der ganze Roman sowieso nichts zu tun.
Happige Kost
„Les particules élémentaires“ ist keine leichte Kost. Das Leben von Michel Houellebecqs Hauptpersonen, zwei Brüdern um die 40, ist verstrahlt von einer inneren Einsamkeit, die fast alle Freude ausgerottet hat. Jeder lebt für sich ein ziemlich karges Leben. Der Leser nimmt teil an den gentechnischen Forschungen des einen Bruders und an den sexuellen Obsessionen und Experimenten des anderen, beides beschreibt Houellebecq mit derselben technischen Nüchternheit. Tapfer überstehen die Brüder, voneinander und von den Eltern getrennt, Kindheit und Jugend und müssen sich ihren ersten Begegnungen mit Frauen stellen, ohne je wirklich erfahren zu haben, was Zuneigung und Zuwendung sind. Die zaghafte Liebe, die trotz allem entsteht, erzählt Houellebecq ohne Schnörkel und Allüren. Leider wird der Erzählfuss immer wieder durch Monologe der Hauptpersonen unterbrochen, die versuchen, die Welt zu erklären. Es ist einer der Brüder, Bruno, der den Zusammenhang herstellt zwischen der sexuellen Revolution nach ‚68 und der Tristesse von Swingerklubs und Bordellen.
Michel Houellebecq setzt sich in seinem Roman mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander - sein Roman ist einer der wenigen preisgekrönten, die überhaupt im heutigen Frankreich situiert sind und nicht in fernen Ländern und Zeiten. Seine Vision des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist nicht gerade optimistisch. Vereinzelung des Individuums, psychisches Elend, gnadenloser Wettbewerb nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich beim Kampf um Zuneigung und Anerkennung. Für den Autor eine Erklärung für die heftigen Reaktionen auf sein Buch: „Es ist immer das gleiche“, sagt er. „Der Bote bekommt die Strafe für den Inhalt der Botschaft.“
Die Botschaft des Romans lautet unter anderem, die Gentechnik werde die Probleme der Menschheit lösen, indem sie vollkommene, unsterbliche Menschen schafft. Michel Houellebecq wurde wegen dieser Vision angegriffen. Er wiegelte aber nicht etwa ab, indem er etwa darauf hinwies, dass die technische Entwicklung wohl nie soweit kommen würde. Statt dessen verkündete er, er fnde die Vorstellung menschlicher Klone nicht beängstigend.
Durch all die Aufgeregtheit, die das Buch in Frankreich auslöste, schimmert immer wieder die Frage, wie ernsthaft sich ein Romanschriftsteller zur gesellschaftlichen Analyse verhalten muss, die in seinem Werk enthal ten ist. Dass sie ihm am Herzen liegt, hat Michel Houellebecq zu verstehen gegeben: Schliesslich hat er Balzac als
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