Lanze und Rose
seine Tirade fort.
»Der menschliche Geist ist das Einzige, das man nicht beherrschen kann. Er ist immer frei. Ihr könnt einen Menschen in Ketten legen, ihn schlagen, ihm drohen, ihn krankmachen, doch seinen Verstand könnt Ihr nicht gefangen halten. Leider ziehen die meisten Menschen es vor, ihren Geist schlummern und andere an ihrer Stelle denken zu lassen.«
Er beugte sich über seine Ledertasche, die neben Liams Lager stand, und zog ein kleines Etui, eine Glasphiole und eine Aderpresse hervor.
»Ich kenne Beatrix schon seit Jahren…«
Es schickte sich an, den Aderlass durchzuführen. Mit einer Kopfbewegung wies er auf eine Schale, die neben einigen zum
Trocknen ausgelegten Torfsoden auf dem Boden stand. Ich reichte sie ihm, und er stellte sie unter Liams Arm, den er auf ein Brettchen gelegt hatte.
»Sieben Jahre, um genau zu sein. Ich befand mich zu Besuch bei einem Freund in Cardiff und hörte, dass dort ein Hexenprozess stattfinden sollte.«
»Ein Hexenprozess?«
Sichtlich verlegen zögerte der Arzt.
»Ja… Ich glaube nicht, dass sie mir böse sein wird, wenn ich Euch davon erzähle.«
»Ihr meint, dass Beatrix der Hexerei angeklagt war?«
»Sie wäre unweigerlich zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden. Offensichtlich war sie unschuldig. Der Hexerei, meine ich.«
»Was hat sie dann getan?«
»Ihr braucht sie doch bloß anzusehen, Madam. Ihre einzige Sünde ist ihre Schönheit. Ein Geschenk des Himmels, das eine Gabe sein, sich aber auch als ein wahrer Fluch erweisen kann.«
Mit einer schnellen, präzisen Bewegung stach er die scharfe Lanzette in Liams Haut, der angesichts des Schmerzes leicht zusammenzuckte. Ein schmales, schwärzliches Rinnsal sprang hervor und lief in die Schale. Ich betrachtete die kleine Pfütze, die rasch größer wurde, und hatte das Gefühl, dass mir ebenfalls das Blut aus den Adern rann.
»Setzt Euch lieber hin, Madam. Habt Ihr etwas gegessen?«
»Ein wenig.«
»Beatrix bereitet ein wunderbares Hasenragout mit Zwiebeln, das sie mit Thymian und Bier würzt. Ein oder zwei Teller davon würden Euch außerordentlich guttun.«
Er drückte auf den kleinen Einschnitt, um den Aderlass zu beenden, und wischte Liams Arm ab.
Beatrix stellte die Schüssel mit den Eingeweiden des Hasen, den sie abgezogen hatte, einige Schritte vor der Haustür auf einen großen, flachen Stein. Paddy war wieder aufgebrochen, und Dr. Mansholt war mit einigen Krügen zum Bach gegangen, um frisches Wasser zu holen. Neugierig beobachtete ich Beatrix. Sie
stieß plötzlich ein Fauchen aus, das an den Schrei eines Raubtiers erinnerte, und drehte sich zu mir um.
»Ich rufe nach Flocon«, erklärte sie.
»Nach wem?«
»Er ist eine Wildkatze. Ich habe ihn im Wald gefunden, als er noch ganz klein war. An diesem Morgen schneite es in dicken Flocken, und das arme Kätzchen war schon ganz damit bedeckt. Daher sein Name, ›Schneeflöckchen‹ in Eurer Sprache. Wahrscheinlich war seine Mutter getötet worden, und er hatte sich auf der Suche nach Nahrung verlaufen. Er war schrecklich mager, daher habe ich ihn mitgenommen, um ihn zu füttern. Einige Monate ist er geblieben, doch dann hat die Natur ihn zu sich zurückgerufen. Eine ganze Weile habe ich ihn nicht wiedergesehen. Dann, eines schönen Tages, als ich im Sonnenschein meine Wäsche an den Bäumen aufgehängt habe, erblickte ich ihn im Unterholz, wo er mich wie ein Raubtier belauerte – das er ja schließlich ist. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob er es wirklich war. Deswegen habe ich ein Stück Fleisch auf diesen Stein gelegt, um mich zu vergewissern. Er kam, und es war wirklich mein Flocon: Ich habe ihn an seinem gespaltenen Ohr erkannt. Seitdem kommt er regelmäßig hierher, um sich zu holen, was ich für ihn hinlege.«
Ich trat zur Tür zurück. Beatrix stieß noch einmal ihren Ruf aus. Kurz darauf kam eine herrliche getigerte Katze aus einem schneebedeckten Stechpalmenbusch geschossen und erstarrte. Das Tier war auf der Hut und musterte uns aus seinen gelblichen Augen.
»Komm schon, Flocon! Heute habe ich ein richtiges Festmahl für dich. Mit besten Empfehlungen von Paddy.«
Die Katze witterte, näherte sich dann langsam und schob sich knapp über dem Boden an die Schale heran. Ich bestaunte das herrliche Tier. Die Katze inspizierte den Inhalt des Behältnisses. Offenbar war sie zufrieden, denn sie leerte es und leckte den Boden aus, bis die Schüssel von dem Stein fiel. Als sie sah, dass es nichts weiter für sie gab, strich sie
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