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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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Ich vermochte den Blick nicht vom Profil meines Entführers abzuwenden, der sich jetzt mit einer fast besessenen Sorgfalt seine Muskete vorgenommen hatte. Der Mann war äußerst angespannt. Hinter seinem Schweigen steckte ein aufgewühlter Geist, das konnte ich daran erkennen, wie seine Miene ständig wechselte.
    Er besaß feine Züge, so wie Patrick. Vielleicht war ihm sogar dieser Anflug von Hochmut zu eigen, den Winston besessen hatte. Wenn er lächelte, erschien ein Grübchen in seiner Wange. Ich hatte es schon früher bemerkt, aber nicht darauf geachtet. Jetzt war mir seine Bedeutung klar. Sein glattes Haar war heller als meines. Ich betrachtete seine Hände, die exakt abgezirkelte Bewegungen ausführten. Er musste sie tausendmal geübt haben. Seine Finger waren lang und seine Nägel kurz geschnitten und sauber. Zu gepflegte Hände für einen Bauern. Unter dem teuren Samtstoff seiner Kniehosen und seinen Seidenstrümpfen ahnte ich lange Beine, die zu muskulös waren, um einem Bürokraten zu gehören. Ich war mir sicher, dass er ein exzellenter Reiter und Schwertkämpfer war. Mein Blick richtete sich erneut auf sein Gesicht. Es wirkte düster. Konzentriert presste er die
schmalen und gut gezeichneten Lippen zusammen. Immer wieder zuckte sein linker Mundwinkel krampfartig und verriet, dass er nervös war.
    Natürlich war er das. Die Frage war, was ich jetzt tun sollte.
    Den ganzen Tag lang hatte ich Zeit genug gehabt, mich im Labyrinth der letzten Tatsachen, die ich erfahren hatte, zu verlaufen. Ich war zwischen gegensätzlichen Schlussfolgerungen hinund hergesprungen und hatte mich in Zweifeln verloren. Dann wieder war ich über neue Elemente gestolpert, einige Einzelheiten oder Lücken, die mir in meiner Panik zunächst entgangen waren. Kurz hatte ich zu einer Art Optimismus gefunden, um dann wieder mit dem Kopf gegen eine Mauer aus unbestreitbaren Tatsachen zu laufen… Und schließlich hatte ich wieder ganz am Anfang gestanden.
    Kurz, ich hatte mich im Kreis gedreht. Dann hatte eine leise innere Stimme, die es überdrüssig war, mich umherirren zu sehen, sich zu Wort gemeldet. Hör auf dein Herz, Caitlin. Ergehe dich nicht in haltlosen Mutmaßungen. Der Verstand arbeitet zu logisch. Er kompliziert alles. Er seziert, urteilt, wägt ab, untersucht, argumentiert, vergleicht und prüft alles, bevor er uns ein Kompendium liefert, das uns leiten soll. Der Verstand ist kalt und unerbittlich.
    Völlig erschöpft hatte ich mich dann von meinem Instinkt leiten lassen; meinem Mutterinstinkt. Ich würde… Nein, ich musste ihm sagen, wer ich war, ihm die Wahrheit erklären. Das Bild, das er von mir hatte, hatten hasserfüllte Menschen für ihn aufgebaut. Stephen wusste nichts von mir, von den Umständen seiner Geburt. Ich musste ihm die Wahrheit sagen.
    Seit er zurückgekommen war, hatte er kein Wort mit mir gesprochen. Immerhin hatte er mich von meinem durchgeweichten Knebel befreit. Dann hatte er sich der verbissenen Pflege seines Arsenals gewidmet und mir keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Jetzt hatte er den Kolben seiner Muskete auf den Boden gesetzt und den Lauf zwischen die Schenkel genommen. Er hatte den Ladestock gelöst und steckte ihn in den Lauf der Waffe. Seine konzentriert gerunzelten Brauen beschatteten seine blauen Augen.
    Ich schlang die Arme um meine angezogenen Knie und legte
das Kinn darauf. Dann schloss ich die Augen und versank wieder in meinen Überlegungen. Wie sollte ich ihn darauf ansprechen? Womit beginnen? Guten Tag, darf ich mich vorstellen … Caitlin Dunn, deine Mutter … Oder vielleicht so: Stephen, mein Sohn! Endlich habe ich dich gefunden! Erzähl mir doch, was du in den letzten einundzwanzig Jahren erlebt hast! Nein, auch nicht besonders gut!
    Als ich die Augen aufschlug, richtete sich die düstere Mündung der Muskete auf mich. Stephens Finger lag auf dem Abzug, und er sah mich am anderen Ende der Schusslinie mit kaltem Blick an. Mir blieb fast das Herz stehen.
    »Ich habe mich schon immer gefragt, wie man sich angesichts des Todes fühlt«, sagte er gedehnt.
    Langsam nahm er den Finger vom Abzug.
    »Und, wie ist es?«, fragte er.
    Ich drückte meine feuchten Handflächen fest gegen meine Schenkel und holte tief Luft.
    »Stephen?«, fragte ich mit wild klopfendem Herzen.
    Er zog die Augen zusammen und senkte mit kalkulierter Langsamkeit die Waffe. Tatsächlich schien jede seiner Bewegungen genau berechnet zu sein. Wir schienen jenseits der Zeit zu schweben. Einundzwanzig Jahre …

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