Lanze und Rose
Mein Sohn… Er sah mich mit verständnisloser Miene an.
»Diesen Namen habe ich dir gegeben. Ich bin deine Mutter, Stephen.«
Einige Augenblicke vergingen in drückendem Schweigen, während Stephen reglos dastand und mich musterte. Ich wartete. Er zuckte nicht mit der Wimper; meine Mitteilung schien ihn nicht zu erstaunen.
»Der Name steht im Taufregister, aber ich benutze ihn nie.«
Er stand auf, begann gemessenen Schrittes vor mir auf und ab zu gehen und beobachtete mich verstohlen, über die Schulter hinweg. Sein Blick wirkte fiebrig; der Blick eines Mannes, der kurz davor steht, ein schreckliches Verbrechen zu begehen. Die Dudelsäcke waren verstummt.
»Die Soldaten sind fort. Nicht lange, und der Prinz wird sich einschiffen«, erklärte er und stützte sich gegen den Türrahmen. »Ich muss dorthin.«
Die Schatten ließen seine Züge hohl erscheinen. Er legte eine Hand auf die gegenüberliegende Seite des Rahmens. Ein Kloß saß in meiner Kehle und ließ mich nicht atmen.
»Stephen. Ich bin deine Mutter, hast du mich gehört?«
Meine Stimme hallte durch die kleine Hütte, schlug heftig auf meine Ohren zurück und stellte mich vor die unentrinnbare Wahrheit. Vor mir stand mein Sohn. Ein Mann. Ein Unbekannter. Und ein Verräter … Er schickte sich an, einen Königsmord zu begehen, den König zu ermorden, für den mein anderer Sohn gekämpft und sein Leben gelassen hatte. Am liebsten hätte ich laut geschrien, aber ich bekam nicht einmal Luft in die Lungen.
Ich bohrte die Finger in meine Schenkel, als könnte der körperliche Schmerz die Qual in meinem Herzen dämpfen. Stephen wandte mir seine übliche gleichmütige Miene zu. Ich fragte mich, ob er schon einmal etwas anderes empfunden hatte als Hass oder Rachedurst. Im Halbdunkel musterte er mich aus seinen leuchtenden, aber ausdruckslosen Augen.
»Ich habe es gewusst…«
Sprachlos starrte ich ihn an.
»Du hast es gewusst?«
»Das hat mich daran gehindert, Euch letzte Nacht zu töten. Ich wollte wissen… ob … Ihr Euch an mich erinnert.«
»Ob ich mich an dich erinnere? Stephen! Seit deiner Geburt weine ich um dich!«
»Seit meiner Geburt… Dann habt Ihr mich nicht vergessen?«
Seine Stimme klang leise, beinahe wie ein Flüstern. In Gedanken versunken starrte er in die Ferne.
»Wie könnte eine Mutter ihr erstes Kind vergessen?«
Er wandte sich zu mir um. Gefühle malten sich auf seinem Gesicht: Trauer, Wut, Verbitterung …
»Und wie kann eine Mutter ihr erstes Kind verlassen? Ihr habt Euch meiner bedient und mich im Stich gelassen, als…«
»Das stimmt nicht!«
»Das habt Ihr aber getan, oder?«, schrie er.
»Ich habe dich nicht benutzt, wie man es dich glauben gemacht hat.«
»Was macht das aus? Tatsache ist, dass Ihr mich verlassen
habt. Aber im Grunde … Wie könnte ich es Euch verübeln? Welche Frau will schon einen Bastard, der in unreiner Lust empfangen ist? Wenn Ihr Euch wenigstens damit zufrieden gegeben hättet, einfach zu gehen…«
Die Verbitterung gab ihm seine Worte ein, die Wucht seines aufgestauten Zorns. Trauer lag jetzt auf seinen Zügen. Er trank noch einmal von dem Wein und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. Dann stieß er einen Wutschrei aus und warf die Flasche an die Wand, wo sie zerschellte.
»Nein … Ihr musstet noch mehr tun«, fuhr er bitter fort und stellte seine ganze Verachtung zur Schau. »Ihr habt meinen Vater getötet. Ihr habt mir meinen Namen gestohlen, mein Erbe, mein Leben.«
»Dein Vater war nichts als ein Ungeheuer. Er … er …«
»Hat Euch Gewalt angetan…«
Er wusste Bescheid …
»Becky«, erklärte er. »Aber … ich wollte ihr nicht glauben.«
»Sie kannte die Wahrheit, Stephen. Es hatte vor mir noch andere gegeben…«
»Nennt mich nicht so! Ich hasse diesen Namen!«
Die Worte waren nur so aus ihm herausgebrochen, und sie trafen mich wie Messerstiche ins Herz.
»Für mich ist das dein einziger Vorname. Es ist der Name meines Großvaters mütterlicherseits und das einzige Erbe, das ich dir mitgeben konnte.«
Sein Blick floh mich und richtete sich auf die Einsamkeit des Ozeans.
»Habe ich eigentlich Brüder, Schwestern?«, erkundigte er sich einige Minuten später ruhig.
Die Frage überrumpelte mich.
»Ähem… Zwei Brüder und eine Schwester.«
»Und ihre Namen?«
»Warum?«
»Ich erfahre plötzlich, dass ich eine Familie habe; da möchte ich doch wenigstens ihre Namen wissen.«
»Duncan Coll, Ranald und Frances. Dein Bruder Ranald … ist in Sheriffmuir
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