Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel
warf das Blatt in den Papierkorb. Erbost murmelte sie etwas von »Erpressung« und verschwand im Büro hinter der Rezeption. Jan war als Erster beim Papierkorb und fischte den Brief heraus, aber Kristina, die ihm über die Schulter blickte, war schneller fertig mit Lesen. Sie hoffte, ihre Tante würde nicht hören, dass sie kichern musste. Fedele hatte eine hochoffizielle Rechnung geschrieben für einen »Sondertransport per Boot mit Nachttarif«. Aber dort, wo die Summe hingehörte, stand: »Ein Tanz mit mir am Karnevalsfest am 1. Februar auf der Piazza San Marco.«
Lange hatte Kristina nicht einschlafen können, so viel hatte sie über den Dogen und auch über den Fluch, der auf der Familie Pezzi lag, nachgegrübelt. Und als sie endlich einschlief, träumte sie von Sara, die mit dem Dogen in einem Garten voller Schlingpflanzen tanzte. Bei jedem Tanzschritt wurde sie schwächer und alterte im Zeitraffertempo, bis sie schneeweißes Haar hatte und zusammenbrach.
Schweißgebadet fuhr Kristina hoch. In der Stille des Zimmers hörte sie nur ihren eigenen schnellen Atem. Das Mondlicht schien herein und alles war friedlich. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt, es war erst kurz vor ein Uhr morgens. Luca würde erst in über einer Stunde hier sein. Doch Jans Bett unter dem Fenster war eindeutig leer. Vielleicht holte er sich gerade etwas zu trinken? Aber ein ungutes Gefühl im Bauch sagte ihr etwas ganz anderes. Sie schlüpfte aus dem Bett und tappte zu der Kommode, in der die magischen Dinge verwahrt waren. Ihre Ahnung bestätigte sich: Das Auge des Makaro war fort, außerdem hatte Jan seine Kamera eingepackt. Im selben Moment, als die kleine Uhr auf ihrem Nachttisch mit einem Klick auf ein Uhr morgens rutschte, wusste sie, wo er ganz sicher war. »Dreizehnte Stunde«, sagte sie zu sich selbst.
Im Mondlicht erwachte ein besonderer Zauber. Kristina kam sich vor, als würde sie durch eine ganz neue Stadt laufen, eine magische, fremde Stadt der Zauberer und Alchimisten. Auch ohne das Auge des Makaro erkannte sie huschende Schatten, Spiegelbilder alter Zeiten. Eine maskierte, fast durchsichtige Dame stand auf einer Brücke. Pestärzte mit schwarzen Umhängen und den langen Schnabelmasken über dem Gesicht malten Kreidekreuze an Türen zum Zeichen, dass in diesen Häusern die Seuche wütete.
Die geflügelten Steinlöwen, Greife und Statuen zwinkerten, als Kristina an ihnen vorbeikam. Gelbe, hungrige Löwenaugen verfolgten ihren Weg. Mit einer Gänsehaut lief sie schnell weiter. Das Wasser in den Kanälen glänzte wie eine dunkle Spiegelfläche, in der sich die Häuser grimmig mit schwarzen Fensteraugen zu betrachten schienen. Die Erinnerung an die Schlickleute und das geheimnisvolle Ungeheuer ließ Kristina so rasch über die Brücken rennen, als wären alle finsteren Mächte der Stadt ihr auf den Fersen. Mit Seitenstechen erreichte sie die ehemalige Apotheke und lief, ohne anzuhalten, auf die Wand zu.
Zwei Sekunden später umfächerte sie die kühle Luft der Ca’ d’Oro . Stäubchen tanzten im Mondlicht und verwandelten es in einen silbernen Schleier. Das Flüstern von Geistern hallte im Raum wider, aber heute waren es nicht die Donnole, es war die Festgesellschaft, die Kristina neulich nur flüchtig gesehen hatte. Jetzt malte der Mond schattige, lachende Münder nach. Die Damen trugen Kleider, die an das von Violetta erinnerten. Sie trugen Masken, auf denen Gold und Juwelen schimmerten. Glaskelche stießen mit einem sirrenden Klingen aneinander, doch statt roten Weins schwappte trübes Lagunenwasser voller Algen darin.
»Jan?« Ihre Stimme schreckte irgendetwas draußen im Kanal auf. Es platschte, dann erklangen feuchte, schlurfende Schritte. Kristina trat sofort den Rückzug an. Ihr Bruder war nicht hier. Aber vielleicht woanders in der Ca’ d’Oro?
Ein kalter Windstoß schien Kristina mitten entzweizuschneiden, als ein Pärchen genau auf sie zu- und durch sie hindurchwirbelte.
Durch eine Glastür tastete sie sich hoch in den ersten Stock. Jan hockte in einem Ausstellungsraum auf dem Boden. Im Raum hingen überall alte Gemälde. Kristina war so erleichtert, dass sie ganz weiche Knie bekam. Sie rannte zu ihrem Bruder. »Ich dachte schon, die Schlickleute hätten dich geholt!«, schalt sie ihn. »Warum schleichst du mitten in der Nacht weg?«
Er schniefte, und jetzt erst merkte sie, dass seine Wangen nass glänzten. Ohne ihr eine Antwort zu geben, hob er die Taschenlampe. Plötzlich brannten auch in ihren
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