Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
Antwort.
Es war ein lahmer Versuch, ein Gespräch anzufangen,
nachdem er ein ganzes Jahr lang keinen Kontakt gehabt hatte. Aber schließlich
war es ja nicht so, dass sein Vater ihm jemals vorgehalten hatte, zu
verantwortungsbewusst oder zu verlässlich oder sonst irgendwas zu sein.
Das Gespräch war bemüht, sie machten Smalltalk,
während Kade all seinen Mut zusammennahm, um zu fragen, wie die Dinge zu Hause
liefen. Sein Vater erzählte vom harten Winter; das einzig Gute an dieser
Jahreszeit war, dass die Sonne nur drei Stunden um die Mittagszeit herauskam.
Kade rief sich die lange Dunkelheit Alaskas ins Gedächtnis, und sein Puls
beschleunigte sich begierig beim Gedanken an so lange Nächte, so viele Stunden
Freiheit, um durch die Wildnis zu streifen.
Es war offensichtlich, dass sein Vater noch nichts
von den grauenvollen Morden gehört hatte. Kade erwähnte sie nicht, sprach auch
nicht die Mission an, die ihn in den Norden führte. Stattdessen räusperte er
sich und stellte die Frage, die ihm schon auf den Nägeln brannte, seit er von
dem Zwischenfall in Alaska gehört hatte.
„Wie geht's Seth? Alles in Ordnung mit ihm?“
Kades Blut gefror ein wenig, als sein Vater
zögerte. „Es geht ihm gut“, sagte er schließlich. „Warum fragst du?“
Kade hörte den Argwohn in der Stimme seines Vaters,
die milde Missbilligung, die sich jedes Mal in die Stimme des älteren Mannes
schlich, wenn Kade es wagte, sich nach seinem Bruder zu erkundigen. „Ich frage
mich nur, ob er gerade da ist, das ist alles.“
„Dein Bruder ist geschäftlich für mich in die Stadt
gefahren“, kam die knappe Antwort. „Er ist schon ein paar Wochen fort.“
„Ein paar Wochen“, wiederholte Kade. „Da ist er ja
schon lange weg. Hast du in letzter Zeit überhaupt von ihm gehört?“
„Nicht in letzter Zeit, nein. Warum?“ Am anderen
Ende wurde sein Vater jetzt stumm vor Ungeduld. „Worum genau geht es, Kade? Ein
ganzes Jahr kein Wort von dir, und jetzt horchst du mich über deinen Bruder
aus. Was willst du genau?“
„Vergiss es“, sagte Kade und bereute schlagartig,
dass er überhaupt angerufen hatte. „Vergiss einfach, dass ich angerufen habe.
Ich muss los.“
Er wartete die Antwort seines Vaters nicht ab,
ehrlich gesagt konnte er darauf verzichten.
Ohne ein weiteres Wort beendete Kade den Anruf.
Immer noch schwirrten ihm die grausigen Bilder im Kopf herum, die er vor Kurzem
im Techniklabor gesehen hatte. Und es erschreckte ihn, dass sein Bruder
womöglich schon seit Wochen verschwunden war und niemand wusste, wo er steckte.
Sein Bruder, der dieselbe dunkle, übersinnliche
Gabe besaß wie Kade.
Dieselbe gefährlich verführerische Wildheit - diese
gewalttätige Kraft, die so leicht außer Kontrolle geraten konnte. Und genau das
war geschehen, wie Kade nun grimmig zugeben musste. Mindestens einmal.
„Gottverdammt, Seth.“
Er warf das Handy auf das Bett. Dann fuhr er mit
einem wilden Knurren auf dem Absatz herum und rammte die Faust gegen die
erstbeste Wand.
4
Der Polarsturm hatte das Landesinnere von Alaska
ganze zwei Tage lang gebeutelt, die Kleinstadt Harmony und ihre weit
verstreuten Nachbarorte entlang des Flusses waren in neunzig Zentimetern
Neuschnee versunken, und die Tagestemperaturen in der ganzen Region lagen bei
minus sechsundzwanzig Grad. Bei diesem Wetter blieben den Leuten normalerweise
zwei Möglichkeiten: Entweder sie bunkerten sich zu Hause ein, oder sie kamen in
Scharen zu Pete's, der einzigen Kneipe der Stadt.
Als heute die dritte und letzte Stunde Tageslicht
zur mittäglichen Dämmerung verblasste, drängten sich trotz des heulenden
Winterwindes und der Eiseskälte fast alle der dreiundneunzig Einwohner von
Harmony in der protestantischen Holzkirche zu einem außerplanmäßigen
Bürgertreffen zusammen. Alex saß neben Jenna in der zweiten Bankreihe und
versuchte so sehr wie alle anderen, sich einen Reim auf das Gemetzel in der
Wildnis zu machen. Die sechs brutal zugerichteten Opfer hatte man in einen
provisorischen Kühlraum auf dem Flugplatz von Harmony gebracht, und die ganze
Stadt vibrierte vor nervöser Unruhe.
Alex wusste, dass Zach Tucker versucht hatte, den
Angriff auf die Familie Toms nicht an die große Glocke zu hängen, aber obwohl
das Hinterland so riesig war, verbreiteten sich Neuigkeiten in Windeseile - und
ganz besonders schnell in dieser abgelegenen Gegend am Ufer des Koyukuk.
Schlechte Neuigkeiten, besonders wenn es um mehrfache ungeklärte brutale
Gewaltverbrechen mit
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