Lass den Teufel tanzen
Spannung steigt, einen immer düstereren Charakter annimmt, wild und mitreißend. An der Mauer leuchten erneut Blitze auf, nur für Archina zu sehen, helle, starke Blitze.
Donna Aurelia schlägt ihre teuflischen Terzen auf dem Tamburin und singt mit einer flachen, nasalen, spröden Stimme, die bis zur Decke steigt, dort abprallt und in den Raum zurückfällt:
Santu Paulu meu de Galatina
Facitene ’na grazia stammatina
Santu Paulu meu de le tarante
Facitene ’na grazia e tutte quante. 13
Jetzt sieht Archina, wie sich die kleine Menge von ihr entfernt, wie sie an Gewicht und an Substanz verliert und auf der anderen Seite eines Schleiers, der sie jetzt alle bedeckt, davongleitet, und wie sie jetzt alle einer kleinen Welt der Toten, der fernen und stummen Toten, anzugehören scheinen. Ach! Das ist es also, was ihr geschieht! Sie tanzt hinter einem Schleier und sieht in der Welt der Lebenden, die jenseits des Tuchs beginnt, all ihren irdischen Schmerz.
Es wogen die Körper im Lande des Schmerzes, doch niemand kann sie berühren, und draußen im Wind wiegen sich alle Bäume der Erde. Archina fühlt sich nah und fern zugleich. Sie ist da, und sie ist nicht da. Ihr Körper verwandelt sich, ihr Schicksal vermischt sich mit dem Schicksal der anderen, und während sie sich um die eigene Achse dreht und ihre Sprünge macht, links und rechts und wieder links, während sie mit dem Fuß den Takt schlägt, denkt sie, wenn ihr Scharfrichter kommen wollte, um sie zu holen, dann könnte er es in diesem Moment nicht tun, denn er würde sie nicht erkennen.
Rasch ziehen Wolken in den Raum ein, die aus einem verborgenen Winkel der Welt stammen. Archina schwitzt und tanzt.
Pizzicarella mia pizzicarella
Pizzicarella mia pizzicarella
E la cammenata tòia pare c’abballa
Pare c’abballa. 14
In genau diesem Moment weiß Archina zum ersten Mal in ihrem Leben, wo ihr Platz auf der Welt ist. Sie ist die von der Spinne Gebissene, die Besessene, die Kranke, die Akrobatin, die in schwindelerregender Höhe ihre Kunststücke vorführt, dort oben im Wind, auf einem Seil, das aus einem roten und gelben Band geflochten ist, hoch oben über den erloschenen Augen der Anwesenden, den Augen ihres Vaters, der sie nicht ein einziges Mal anschaut, sondern immer nur mit gesenktem Kopf dasitzt und seine Zigaretten rollt, in einer Ecke der Küche, ganz da unten und noch viel tiefer als sie selbst, die dort ihre Pirouetten dreht, frei und schweißgebadet. Um sich herum spürt sie eine warme Strömung, wie einen Golfstrom, der lauter Ertrunkene mit sich führt. In dem Sog ist ihre ganze Herkunft, sind all ihre Vorfahren. Der Klang des Tamburins wiegt und drängt sie, die Musikanten spinnen mit ihren Akkorden ein unsichtbares Netz wie aus Eisen geklöppelte Spitze, und dort hinein muss sie sich fallen lassen, sich einfach gehen lassen, denn die Musikanten werden sie auffangen, und sie wird in Sicherheit sein. Wie stark ist doch dieses Netz, das aus Rhythmus geflochten ist, wie mütterlich, und genau dorthin möchte sie sich fallen lassen. Ertrinken möchte sie darin! Jetzt steht Archina, sie bewegt
sich, sie hüpft und springt wie ein Ball, das Band, das sie über ihren Kopf hält, ist eine Schärpe aus rubinrotem Leinen, die sie streckt und dehnt, in die Luft schleudert; dann lässt sie ihre Fäuste tanzen, trommelt mit den Händen auf die Hüften, kreuzt die Arme vor der Brust, lässt das Tuch schnalzen. Die Spinne ist da, sie beherrscht alles. Die Zeit spielt keine Rolle mehr, Archina verliert sich. Tiefe Tarantel. Dem roten Tamburin bricht der Schweiß aus, Tausende von Jahren bitterer Musik, sie fließt hinein in den stürmischen Fluss aus Wind, der durch das Haus zieht.
Jetzt spürt Archina, wie ihr Körper mit dem ganzen Haus eins wird. Ein Körper aus Gras, ein Haus aus Körper. Immer noch die Musik, fallende Terzen. Gegen zwei Uhr nachmittags ist das Haus am Siedepunkt angelangt. Archina fühlt, wie die Türen zu fließen beginnen, wie die Fensterscheiben in Tausende von Scherben zerspringen, die ihr jetzt an den Armen hinabgleiten und sich in Moos verwandeln. Das Moos kriecht an den Wänden hoch und dringt in die Küche ein. Sie spürt einen Wald aus Federn, der auf ihrem Rücken wächst. Das Haus wird überschwemmt vom Rhythmus, von Wasser, Wind, Wolken, von fliegenden Blättern und von Blut. Dann folgen die schweren Schläge, die das Zimmer zum Beben bringen. Es sind die Schritte des Teufels. Nur Archina sieht ihn kommen. Er ist riesig, hat
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