Lass Es Gut Sein
Reichen auf Kosten von Armen und Schwachen. Mit dieser Mahnung müssen wir die Öffentlichkeit konfrontieren und die politische Meinungsbildung beeinflussen, und zwar nicht erst dann, wenn der Überdruck sehr groß geworden ist und wir selbst existenziell betroffen sind. Zu viele Leute kommen erst dann aus ihrer Vereinzelung, wenn es »so weit ist«, wenn die Probleme sie persönlich erreicht haben und es oft schon zu spät ist für eine Korrektur. Dann beklagen sie sich zwar laut-stark – aber die Gefahr ist groß, dass die politische Meinungsäußerung der Vielen auf ein Dampfablassen hinausläuft – ohne jedes Nach- und Weiterdenken. Solches Desinteresse an konkreten Problemlösungen entwertet berechtigte politische Proteste. Vielleicht verlegt sich die Menge auch auf dumpfe Gewalt, oder sie verfällt diversen Rattenfängern. Diese kommen heute wieder nationalistisch-sozialistisch daher. Während der Hartz-IV-Proteste versuchten sich z. B. Neonazis in die Demonstrationen einzureihen und sie für ihre Belange zu |34| instrumentalisieren. Ich verstehe und teile weithin die Besorgnis, die Wut und die Angst vieler Menschen, die ihre Hilflosigkeit gern auf die Straße bringen und so ihre Ohnmacht in verändernde Aktion münden lassen wollen. Aber nie wieder lasse sich ein Enttäuschter oder Wütender vor den Karren hirnloser Brüller spannen! Die werden immer vorgeben, es besser zu
wissen
, es besser zu
können
und besser zu
sein
als »die da oben«, ohne Wege zur Umsetzung ihrer Forderungen zu suchen.
Die Kirchen können sich bei den Protesten verdient machen: Sie können in ihren Gemeinden den Betroffenen Netzwerke und organisatorische Unterstützung bieten, sie können sich direkt vor Ort einmischen und vor allem den Wert der Menschlichkeit gegen die bloß ökonomische Ver-Wertbarkeit menschlicher Arbeitskraft setzen. Einige Gemeinden laden zu Gebeten für die soziale Gerechtigkeit ein und halten das schon über Jahre durch – wie einst die Friedensgebete.
Gebete
, die auf akute politische Problemlagen zu reagieren versuchen, müssen
Reflexion, Diskussion
und
Information
mit
Meditation
und
Fürbitte
(als Entlastung, Orientierung und Hoffnung) und schließlich mit
Aktion
zu verbinden wissen. Aktionen, die aus den Kirchen »in die Welt« führen, helfen Vorurteile abbauen und sind auf glückende, also lösungsbereite Kommunikation von Betroffenen und Entscheidungsträgern – ähnlich wie 1989 – ausgerichtet. So können beharrliche, inhaltlich sorgsam vorbereitete »Gebete für soziale Gerechtigkeit« als Scharniere wirken – einerseits zwischen den psychischen und den sachlich begründeten Ängsten, andererseits zwischen den von Sozialabbau betroffenen Personen und den Personen bzw. Institutionen, die politische Entscheidungen auf den Weg zu bringen oder sie in parlamentarisch geregelten Verfahren zu treffen haben.
So kann die Kirche mit ihren situationsbezogenen Gebeten und anschließenden Foren ihren Beitrag zu unserer demokratischen Kultur leisten, denn mit populistischen »Weg mit«-Sprüchen und Gebrüll lassen sich die Probleme nicht lösen. Gelingender Protest muss politisches Denken und Handeln vereinen. Das heißt zum einen, präventiv, differenziert, konkret |35| und lösungsorientiert zu denken, also zu klären,
was
man
wie
realistisch (also auch finanzierbar) unter zivilisierten Bedingungen geregelt haben will. Zum anderen, sich mit anderen zu verbünden, Mehrheiten zu finden und Kompromisse zu suchen. Die Menge braucht gute Fürsprecher, die den Protest aufgreifen und in politische Wege umzusetzen verstehen.
Der Organisator der Magdeburger Demonstrationen, der 42 Jahre alte, 14 Jahre arbeitslose Andreas Ehrhold, war ein solcher Fürsprecher. Zwar scheiterte er bei seinem Versuch, in die Politik zu wechseln. Er wurde nicht gewählt, aber das Zeug zum Volksvertreter hat er durchaus. Er gab einige treffende Sentenzen zu Protokoll:
»Wir sind nicht nur das Volk, sondern auch Ihr Arbeitgeber, Herr Schröder.«
»Man kann ein Volk nicht dafür bestrafen, dass jeden Tag tausende Arbeitsplätze abgebaut oder ins Ausland verlegt werden.«
»Ich werde viel nachgefragt, aber ich bin nicht gefragt.«
»Mir wäre es lieber, wenn sich 20 000 Frauen einen Pelzmantel leisten können, als wenn sich eine Frau 20 000 Pelzmäntel kaufen kann.«
»Wenn beim Stuhltanz die Musik aufhört und die Hälfte der Leute keinen Platz gefunden hat, hilft es nicht, wenn man ein schnelleres Lied spielt.«
Ehrhold
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