Lass Es Gut Sein
zählen vier Prozent zu dieser Unterschicht, im Osten bereits jeder Vierte. Die Betroffenen sind sozial isoliert und antriebslos geworden, sehen für sich keine Chance mehr, den Anschluss wiederzugewinnen oder eine Arbeit zu bekommen.
Zu den Autoritätsorientierten, Geringqualifizierten zählt die Studie 7 Prozent, zu den selbstgenügsamen Traditionalisten 11 Prozent, zur bedrohten Arbeitnehmermitte 16 Prozent, zu den zufriedenen Aussteigern 13 Prozent, zum engagierten Bürgertum 10 Prozent, zur kritischen Bildungselite 9 Prozent, zu etablierten Leistungsträgern 15 Prozent und zu den sogenannten Leistungsindividualisten 11 Prozent. Bei den (noch) Etablierten wächst die Unsicherheit, ob sie nicht auch bald ins Prekariat fallen könnten. Solche Angst ist sowohl in der sogenannten Arbeitnehmerschaft, beim Mittelstand als auch bei Akademikern ausgeprägt.
Man mag darüber streiten, ob die in der Studie genannten Kategorisierungen treffend sind; aber die Zahlen sollten ein Alarmsignal sein. Zumal, wenn wir uns klarmachen, dass fast 39 Prozent der Ostdeutschen für Niedriglöhne arbeiten. Jedes vierte ostdeutsche Kind lebt unterhalb der Armutsgrenze, im Westen schon jedes Neunte. Niedriglöhne sowie die sogenannten 400-Euro-Jobs führen zu einem drastischen Abbau normaler Beschäftigungsverhältnisse zu Tarifbedingungen. Zugleich häufen sich die Meldungen, wie sich die Vorstände der Großkonzerne selber kräftig mit Gehaltsaufbesserungen (bis zu 30 Prozent) bedienen, während sie Zigtausende entlassen.
Wen kann es da noch wundern, wenn das Vertrauen nicht nur in die Handlungsfähigkeit der Demokratie, sondern auch in die Seriosität wirtschaftlichen Handelns abnimmt und über Ressentiments wieder zu Stimmungslagen führt, die von Rechtsradikalen ausgenutzt werden. Die Parolen der Neonazis in Sachsen oder Mecklenburg sind zwar an Primitivität kaum zu übertreffen, aber sie treffen den Nerv vieler von der Gesamtentwicklung »enttäuschter Deutscher«, die einen »Nationalen Aufbruch« |71| wünschen und »die Ausländer« für soziale Probleme der Deutschen (mit-)verantwortlich machen. Deshalb schüren sie Fremdenfeindlichkeit. Sie sind im ursprünglichen Sinne »National-Sozialisten«, die ganz und gar darauf verzichten, an das zu erinnern, was Nazis angerichtet haben.
Widerspruch wagen
Angesichts der Globalisierung gebe es keine Alternative zum Umbau des Sozialstaats, wird uns erklärt. Die oben genannten Zahlen belegen jedoch, dass der Sozialstaat zur Disposition gestellt wird. Es steht nicht mehr und nicht weniger zur Debatte als Artikel 1 unseres Grundgesetzes (die Würde des Menschen ist unantastbar) und die Gültigkeit von Artikel 14, wonach Eigentum geschützt wird, aber zugleich dem Gemeinwohl dienen soll.
Alle am Gedeihen des demokratischen Staatsgebildes interessierten Bürger müssen alles tun, damit die soziale Wirklichkeit den Verfassungsgrundsätzen nicht Hohn spricht. Das erfordert alltägliche Zivilcourage.
Die »Tapferkeit im Felde« sei den Deutschen eigen, aber nicht die Tapferkeit im zivilen Leben, merkte der liberal-konservative Bismarck bitter an, nachdem er im Parlament einmal mit seiner Meinung allein dagestanden hatte, aber andere ihm hernach beteuert hatten, sie dächten wie er. Wohl jeder kann ähnliche eigene Erfahrung beisteuern: Wenn man mit Berufskollegen oder Parteifreunden zusammensitzt und gemeinsam über seine Gegner herziehen kann, dann sind alle ganz mutig und übertreffen einander in ihrer Polemik. Äußert aber einer unter Freunden, die sich ganz einig scheinen, eine eigene, abweichende Meinung – gar zugunsten des gemeinsamen Gegners –, so werden die anderen in der Regel sehr zurückhaltend oder schweigen klug.
In unseren Parteien zumal entwickelt sich ein zunehmender Gleichschaltungsdruck. Ihr Führungspersonal reagiert in der |72| Regel ziemlich empfindlich gegenüber interner Kritik. Und eine geradezu bigotte Presse beklagt entweder lautstark die Gleichschaltungstendenzen in den Parteien bei wichtigen politischen Entscheidungen, oder aber sie stürzt sich auf die Partei, die sich in einem offenen oder gar öffentlichen Diskussionsprozess in komplizierten Fragen befindet. Dem Normalbürger ist das faktisch »imperative Mandat« äußerst anrüchig geworden, da es im Widerspruch zum Grundgesetz steht, wonach der Abgeordnete nur seinem eigenen Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist (Artikel 38). Nun wünscht sich derselbe Bürger
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