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Lass Es Gut Sein

Titel: Lass Es Gut Sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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aber auch eine klare Linie in den Parteien und Entschlüsse, die Mehrheiten finden, um durchgesetzt werden zu können.
    Was nun? Will »der Bürger« von Politikern mehr individuelle Unabhängigkeit oder mehr politische Durchsetzungsfähigkeit? Es war schon mutig, als Angela Merkel in der
Mitteldeutschen Zeitung
vom 22. Juli 2004 zugab: »Es gibt keine Gewissheit über den einzig möglichen Weg, sondern wir leben auch von der Erfahrung, ob sich etwas bewährt oder nicht. … Ich glaube aber auch, dass der Irrtum eine produktive Kraft hat.« Warum sollen Parteien untereinander nicht streiten, bevor sie zu einem differenzierten und sachdienlichen Entschluss kommen? Warum wird die zunächst kontroverse Suche nach Lösungen nicht öffentlich honoriert? Warum wird die politische Kontroverse auch in den Parteien stets mit Schlagzeilen über konzeptionelles Durcheinander, strukturelle Uneinigkeit oder persönlichen Machtkampf quittiert? Besteht nicht eine Partei – eine Volkspartei zumal – aus selbstständig denkenden Individuen?
    Demokratie lebt auch vom Streit, der freilich nicht immer öffentlich ausgetragen werden muss. Sie bedarf einer Atmosphäre, in der Streiten in der Sache möglich bleibt und die Kompetenz der Einzelnen genutzt wird. Der obwaltende Uniformierungszwang ist inzwischen dramatisch zu nennen: Wer unbequeme Wahrheiten in die Diskussion einwirft, wird oft als Querulant denunziert, wer den Sozialstaat verteidigt, dem wird Reformunfähigkeit, Besitzstandswahrung und Blockadeverhalten vorgeworfen. |73| Das haben etwa Norbert Blüm und Heiner Geißler ebenso erlebt wie Otmar Schreiner und Andrea Nahles. Die meisten Menschen wollen bei der Mehrheit sein und wollen stets mit-siegen: ob bei Wahlen, beim Niederkonkurrieren des Anderen, beim Sport oder im vaterländisch-patriotischen Ernstfall. Wo einer ausschert, ist man schnell mit Wortkeulen zur Stelle: Abweichler, Betonkopf, Dissident, Nörgler, Egozentriker, Heißsporn. Freilich: »Aus Prinzip dagegen zu sein« und sich stets querzustellen ist tatsächlich ein charakterlich beschwerliches, sozial schwer verträgliches Querulantentum. Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit dagegen zu sein, seine eigene Meinung zu haben und sie dort zu vertreten, wo es darauf ankommt, sich der Mehrheit oder der Macht aus eigener Einsicht oder auf Grund seiner Überzeugungen bewusst entgegenzustellen – das ist Zivilcourage. Also, jeder möge sich prüfen!
    Wer sich (unsinnigen oder unsittlichen) Befehlen widersetzt, die Tapferkeit beim staatlich organisierten und legitimierten Töten des Feindes verabscheut und die Tapferkeit vor dem Freund übt, braucht viel Zivilcourage. Im Kriegsfall muss er gar mit Todesurteil oder immerwährender öffentlicher Schande (als Deserteur, Feigling, Vaterlandsverräter) rechnen. Selbst Soldaten, die am Ende des Zweiten Weltkrieges desertierten, wurden in Deutschland jahrzehntelang nicht rehabilitiert!
    Wo einer den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes (ohne Anleitung eines anderen, gar ohne jede Anweisung!) zu bedienen (also tätig zu werden, statt nur vor sich hin zu räsonieren!), zeigt er Zivilcourage. Auch Helga Schöller, die Buchhalterin Klaus Essers, hatte Zivilcourage. Während des Mannesmann-Prozesses 2004 beteuerte Esser unablässig, er habe sich völlig korrekt verhalten. Seine Buchhalterin war indes aufs äußerste empört angesichts der Überweisungen, die sie für ihn tätigen sollte. Sie hielt sie zurück, rief einen Wirtschaftsprüfer zu Hilfe und musste die Gelder schließlich doch überweisen. Ihr verschlägt es noch heute die Sprache. Sie fragte sich ganz schlicht, wie die Zahlungen zu begründen, mit welchen besonderen Leistungen solche Summen zu rechtfertigen seien. Sie hat sich ein |74| natürliches Gefühl für Redlichkeit bewahrt. Sie sagte: »Ich hätte mich geschämt, zusätzlich noch Geld zu nehmen.« Aber für Klaus Esser war und ist das Wort
Scham
offenbar ein Fremdwort. Stattdessen erstritt er sich nach dem Prozess noch zusätzliches Schmerzensgeld. Bei den Normalbürgern hinterließen der spektakuläre Prozess und sein Ausgang kalte Wut, dumpfe Ohnmachtsgefühle oder schlicht Fassungslosigkeit.
    Die vornehmen, ohne jede Maske sofort in der »Dreigroschenoper« auftrittsfähigen Absahner berührte die Frage der Legitimität ihres Verhaltens in keiner Weise; sie versuchten vielmehr, mit zahlreichen Finessen und teuren Anwälten die Legalität ihres Handelns nachzuweisen. Ende November 2006 konnten sie sich

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