Lass Es Gut Sein
kein Überraschungsei trösten konnte … Anders war die Welt wohl, aber sie taugte nicht als meine neue Welt … Wahrscheinlich bist Du danach wieder heimgefahren und hast den Osten Osten sein lassen, und so habe ich es mit dem Westen auch gehalten. Nur ließ sich der Westen im Osten schlechterdings nicht ignorieren, und ich habe deshalb die Hälfte meines Lebens damit verbracht, zu verstehen, weshalb mich der Westen so enttäuscht hat und was hier anders ist als dort. Und diese Anstrengung unternimmt man ja nur, um zu verstehen, was nicht verlorengehen darf, was man dem neuen Land, das uns so viel geschenkt hat, selbst schenken könnte. So wie wir früher im Osten auf der Jagd waren, ein Geschenk für die Westverwandtschaft zu besorgen, die in unseren Augen ja alles, und zwar viel besser, hatte; so war ich jetzt auf der Jagd herauszufinden, was denn wir haben, das drüben gebraucht werden könnte.« So beschrieb Daniela Danz am 29. Oktober 2005 in der
Mitteldeutschen Zeitung
und im
Kölner Stadtanzeiger
ihre ersten Eindrücke vom Westen. Wie gut die Autorin – im Herbst 1989 war sie 13 Jahre alt – über die alte und neue deutsche Welt zu reflektieren wusste.
Der erste Impuls der DDR-Bürger beim Fall der Mauer war: »Endlich offene Grenzen! Freiheit!« Der Ur-Antrieb der |106| friedlichen Erhebung in der DDR war Freiheit, Bewegungsfreiheit, Denkfreiheit, Versammlungsfreiheit, Mitbestimmung, Vereinigungsfreiheit gewesen – getragen und initiiert von kleinen, meist kirchlich oder künstlerisch getragenen Gruppen und Einzelpersonen. (Nachträglich wurden die Aktionen auf das Streben nach »Deutscher Einheit« verkürzt.) Die Sehnsucht nach der Freiheit lässt Freiheit hell erstrahlen. Solange jemand nach ihr verlangt, macht er sich nicht klar, was sie ihm auch abverlangt. Damals haben allzu viele Ostdeutsche übersehen, dass man die Freiheit nicht nur genießen kann, sondern dass sie täglich errungen, gestaltet, erarbeitet werden muss.
Selbstbehauptung eigener Lebensentwürfe
in
der freien Welt oder
gegen
die freie Welt? Helmut Kohls überraschender 10-Punkte-Plan und der Aufruf »Für unser Land« – beide vom 28. November 1989 – machten die Alternative sinnfällig.
Wer kennt ihn nicht: diesen Konflikt zwischen Frei-sein-Wollen und Nicht-frei-sein-Wollen? Und wer hätte nicht schon erlebt, wie tief die Depression der Erfüllung sein kann und wie stark die Kraft der Erwartung? Uwe Johnson, der den östlichen Teil Deutschlands verlassen, aber nie vergessen hatte, schrieb 1970: »Der Mangel an Demokratie prägt die Demokratie viel entscheidender aus; und durch die scharfen und oft sehr weitgehenden Eingriffe des Staates in das persönliche Leben seiner Bürger kristallisiert sie sich noch deutlicher heraus.«
So zählt für Ostdeutsche Wohnen immer noch zu einem Grundrecht, zu einem jedem zustehenden, d. h. auch bezahlbaren Sozialgut. Mehr und mehr bekommen sie nun zu spüren, dass Wohnung ein Wirtschaftsgut ist – und wo Vergleichsmieten eingeführt werden, muss der Bewohner sich vergleichen können mit denen, die ganz gut dran sind. Und wenn er es nicht ist, wird ihm der Boden unter den Füßen, das Dach über dem Kopf weggezogen – so grassiert nun Angst um die bezahlbare Wohnung.
Arbeit wird als Menschenrecht empfunden. Sie hatte und hat |107| im Osten einen noch viel höheren Stellenwert als im Westen. Von Arbeit ausgeschlossen werden heißt für viele, vom Leben, von Sinnbeschaffung abgeschnitten zu sein. Es geht nicht nur darum, alles zum Leben Notwendige durch eigene Arbeit schaffen zu können, sondern um Selbstachtung und eine Glückserfahrung, die im Arbeiten und im Ergebnis eigener Arbeit liegt.
Auch die Allgemeingüter-Utopie, dass das Meiste doch eigentlich allen gehöre und allen zur Verfügung stehen sollte, ist im Osten noch nicht ganz tot, wenngleich im geschichtlichen Pendelschlag das Privateigentum wieder zum höchsten Gut wird. Da sich in der DDR allzu wenige an der Eigentumsbildung beteiligen konnten, haben sie nun noch auf längere Sicht das Nachsehen. (6 Prozent der Treuhandbetriebe sind in ostdeutscher Hand!)
Für Ostdeutsche ist in Erinnerung geblieben, dass in der DDR jeder in der Gesellschaft einen Platz hatte, also eine Beschäftigung bekam. Schließlich gab es eben nicht nur eine Pflicht zu arbeiten, sondern auch ein Recht auf Arbeit (über deren Sinnhaftigkeit oder gar deren Produktivität will ich hier nicht streiten). Jedenfalls hatte fast jeder das Gefühl, dass er
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