Lass Es Gut Sein
gebraucht und gefordert wurde. Dieser Aspekt verursachte das »größte Loch«, in das die DDR-Deutschen gefallen sind. Und löste das Gefühl aus, das, was Karl Marx einmal geschrieben hat, sei so falsch nicht, und was man ihnen über den Kapitalismus gesagt hatte, sei nicht bloß SED-Propaganda gewesen. Insofern ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass viele Ostdeutsche Linke/PDS gewählt haben und wählen.
Dabei wird nicht genügend differenziert, dass die soziale Marktwirtschaft in Zeiten des Kalten Krieges ganz gut funktioniert hatte und dass der
Markt
nach seiner Entfesselung und Entgrenzung in einer neoliberalen, globalen Ideologie zum höchsten Wert und der
Mensch
darin immer gleichgültiger, ja nur noch ein Störfaktor bei der Effizienzsteigerung wird. Man nennt Sanierung, was eigentlich Entlassung oder Erübrigung von Menschen ist.
|108| Wurde im Sozialismus nahezu alles verstaatlicht (also gesellschaftliches und privates Eigentum in Anspruch genommen, auch mit Gewalt, Druck, Nötigung, Vertreibung), so wird heute nahezu alles privatisiert. Auch immer mehr Dienstleistungen, die bisher von Kommunen oder vom Staat erbracht wurden, werden Privaten überantwortet. Beinahe täglich berichten Zeitungen von Privatisierungen öffentlicher Güter (Bildungs- und Kultureinrichtungen, öffentliches Fernsehen, kommunale Wohnungsgesellschaften, Krankenhäuser.)
Selbstentfaltung
hat als Kehrseite immer auch
Selbstdurchsetzung
. Sich selbst darstellen zu können artet alsbald zur bloßen Selbstdarstellung aus. Und der endlich errungene freie Markt, in dem jeder seine Fähigkeiten und auch seine Waren feilbieten kann, wird zu einem freien Markt, der zuerst und zuletzt nach Gewinn fragt, nicht nach Menschen, schon gar nicht nach den Verlierern, bis nur noch nach höchstmöglichem und schnellem Gewinn gefragt wird. Viele Ostdeutsche – ich würde sogar sagen: die große Mehrheit – schreien bei allen Problemen ganz schnell wieder nach dem Staat. Werden in der Innenstadt in Wittenberg mehr und mehr kleine Geschäfte geschlossen, verweisen die Inhaber auf »die Stadt«, die doch verhindern müsse, dass die Großmärkte auf der grünen Wiese alle Kaufkraft abfassen, wobei sie selbst dort »günstig« einkaufen. Dass die Kommune innerhalb des Gesamtsystems wenig Einfluss hat, wollen viele nicht wahrnehmen. Man möchte so gerne andere, persönlich Verantwortliche, benennen können!
Es gibt eine tief eingewurzelte doppelte Erwartung an »den Staat«, dass er für mich sorge, wenn es mir schlecht geht, dass er mich aber ganz frei lasse, wenn es mir gut geht, dass es mir noch besser gehen könnte, wenn er mich nicht mit ärgerlichen Reglementierungen oder gar höheren Steuern und Abgaben belasten würde. (In diesem Widerspruch sind wir wohl längst vereint!) Zu den Risiken der Freiheit gehört, dass du ins Bodenlose fallen kannst, zumal dann, wenn der Sozialstaat sich finanziell übernommen hat bzw. wenn die Verteilungsmechanismen in der neoliberalen |109| Weltökonomie die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufklappen lassen.
Eine besondere Enttäuschung haben Menschen seit 1990 dadurch erlebt, dass jetzt zwar Meinungsfreiheit herrscht und man sagen kann, was man will, sich aber dadurch nichts spürbar ändert. In der DDR konnte man nicht alles sagen, was man dachte (sofern man dachte), aber es wurde genau hingehört, bisweilen mit ziemlich unliebsamen Konsequenzen. In der Freiheit reden zu können empfinden viele als Schattenboxen. Und sie merken erst jetzt, dass in diesem demokratischen System mehr die Ökonomie denn die Politik das Sagen hat. Der Staat ist zwar Diener, aber er kann und darf nicht alles, nicht einmal der allgegenwärtige Helfer sein. Solch ein Helfer mutiert nämlich allzu leicht wieder zum Herrscher. Der Staat entlässt den Einzelnen vielmehr in seine Verantwortung. Freiheit heißt auch, durchs Netz fallen zu können, alle Konsequenzen selbst tragen zu müssen. Wo viel Freiheit ist, ist auch viel Unsicherheit. Freiheit muss einerseits eingegrenzt werden durch das Freiheits- und Entfaltungsrecht des je anderen (konkurrierende Freiheitsrechte), und sie muss andererseits flankiert sein von der Verantwortung des Einzelnen, der für sich einsteht und sich dabei zugleich um die Freiheit des anderen sorgt. Freiheit bedeutet eben auch, nicht nur abstrakt »frei« sein zu können, sondern auch die
Mittel
zu haben, um sich mit seinen Begabungen einbringen zu können. 25-prozentige Dauerarbeitslosigkeit
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