Lass Es Gut Sein
Hunderttausende. Durch den Hurrikan Katrina brachen die Wände von Kanälen, und |225| New Orleans wurde fast vollständig überflutet. Angst vor Naturkatastrophen – etwa vor Vulkanausbrüchen, Erdbeben, Meteoriteneinschlägen – oder vor kaum zu bändigenden tödlichen Viren grassiert und wird von den Medien periodisch aufgeheizt. Es wird viel zu wenig Vorsorge getroffen gegen sehr plötzliche gravierende Unfälle mit großen Wirkungen wie gegen längerfristig sich anbahnende Katastrophen. Die große Mehrheit will stets gern mit Unheilsprophezeiungen in Ruhe gelassen werden; schließlich möchte doch jeder seine Tage unbeschwert und besonnt verbringen. Wenn die Katastrophe unvermutet da ist, ist die allgemeine Aufregung riesengroß, und man ist durchaus zu einschneidenden Veränderungen, ja auch zu Verzichtsleistungen bereit. So hat z. B. die Katastrophe in Tschernobyl 1986 beinahe 20 Jahre lang zu einem Umdenken über diese gefährliche Technologie geführt, die allerdings heute vielen – besonders den Betreibern – schon wieder als »sauberste Energieform« gilt.
Muss erst die große Ölverseuchung der Ostsee – etwa durch den Zusammenstoß zweier Großfrachter in der engen, vielbefahrenen Kadettrinne – über uns kommen, ehe strenge Schutzvorkehrungen getroffen werden? Der große Jammer käme zu spät, weil die Schäden irreversibel wären. Die Ostsee wäre auf unabsehbare Zeit »verloren«.
Berechtigte Ängste können zu hilfreicher Vorsorge führen, wo sich ein nüchternes Gefahrenbewusstsein entwickelt und mehrheitsfähig wird.
Neben technischen Vorkehrungen zur Minderung der
Gewalt der Natur
wären viel größere, umfassendere Vorkehrungen aus
Angst um die Natur
nötig. Sollen sie noch wirken, müssten wir die bisher gängige Produktions- und Lebensweise verändern, die der Globus auf Dauer eben nicht aushält. Könnte hier die Angst nicht rechtzeitig zur Lehrmeisterin werden, wenn es schon die
Einsicht
nicht ist? Die Ideologen des sogenannten sachlichen Kalküls – in Wahrheit der »pragmatisch« in Kauf genommenen absehbaren Katastrophen – nennen solche Erwartung kaltschnäuzig einfach illusionär.
|226| Die Unverwundbarkeitsträume sind längst passé, aber seit den SDI-Träumen von Präsident Reagan gibt es jene amerikanische Strategie, einen atomaren Schutzschild zu bauen, der alle anderen verwundbar sein, aber die Vereinigten Staaten als unverwundbar erscheinen ließe. Doch die Schurken kamen am 11. 9. 2001 nicht aus dem Weltraum, sondern von amerikanischen Flughäfen. Sie kamen nicht als mörderische Gesandte ihrer Staaten mit deren Armeen und Raketen, sondern sie kamen aus ungreifbaren Netzwerken, die immer noch nicht zerschlagen sind. Und die Angst wurde und wird fortan geschürt, um noch mehr Sicherheitsmaßnahmen zu rechtfertigen. Mit Antrax konnte man die ganze große stolze amerikanische Nation in Atem halten. Und mit dem Kampf gegen den Terror begründete Präsident Bush nicht nur die Einschränkung von Rechten der US-Bürger, sondern auch die Existenz der Folterhölle Guantánamo.
Wer keine Grundzuversicht hat, dass es gut gehen kann und gut werden wird, könnte sich gar nicht auf die Straße begeben, schon gar nicht auf die Autobahn: ein einziger Unachtsamer, der ausschert, ohne nach hinten zu sehen; ein Verrückter, der Steine von der Autobahnbrücke herabwirft; ein Rad, das sich löst, weil in der Werkstatt vergessen wurde, es festzuziehen, oder weil ein Verwirrter oder Hasserfüllter es heimlich gelockert hat. Ein Betrunkener, der dich am Bahnsteig vor den einfahrenden Zug stößt.
Wer sich ständig vor Augen hält, was täglich passieren könnte, wird panisch. Zugleich gehört die Angst als natürliche Vorsicht, als Sorgsamkeit, als Aufmerksamkeit, als Abwägung zu unseren lebenserhaltenden Kräften. Sie ist ein gefahrenminimierendes Gefühl und fungiert auch wie alle Vorsichts-Maßnahmen als ein lebensdienliches Warnsystem.
Die Maßnahmen können vielleicht helfen, die Furcht vor etwas Konkretem zu mindern, aber die Grundangst lässt sich nur mit Grundvertrauen, mit Zuversicht und Gelassenheit überwinden. Gegen unsere tiefsitzende Grundangst hilft nur ein tief verwurzeltes Urvertrauen, dass die Welt uns letztlich gut ist und mir gut ist; uns, die wir gehängt sind zwischen Himmel und |227| Hölle, die wir Angst haben vor uns selbst oder vor den anderen, vor der Zukunft, vor dem Verlust, vor dem Anfangen und vor dem Aufhörenmüssen.
V.
Wer im Vollbesitz seiner
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