Lass los was dich festhaelt
jedesmal, wenn man die Wohnung betritt und verlässt.
Bitte verstehen Sie mich richtig. Ich schreibe dieses Buch nicht, um Ihnen Ihre Mantelgarderoben oder Schuhschränke zu vermiesen. Vielmehr versuche ich, eine grundsätzliche Bereitschaft zum Hinterfragen von Dingen herauszufordern, die scheinbar selbstverständlich sind, weil sie immer so gemacht wurden oder sich anbieten. Was mich angeht, ich ertrage zum Beispiel keine offensichtlichen Schuhschränke. Deshalb begleitet mich seit 16 Umzügen ein großer Spiegel, der im Hausgang vor meiner Wohnung hängt und niemanden stört, im Gegenteil. Und noch niemand ist auf die Idee gekommen, meine Schuhe, die sich hinter dem Spiegel befinden, zu stehlen.
Merke: Man kann Dinge ganz anders machen als allgemein üblich und anderen trotzdem nicht auf die Nerven gehen.
Vor ungefähr fünf Jahren lernte ich von der chinesischen Schriftstellerin Chao Hsiao Chen, wie man Plastikbeutel in zwanzig Sekunden zu niedlich handlichen Dreieckspäckchen faltet. Seitdem war Schluss mit dem Tütengeknülle in Schubladen und Vorratsschränken. Kurz nachdem ich diese edle Kunst erlernt hatte, saß ich im Wartezimmer eines berühmten Orthopäden, ausgerüstet mit einer Tüte voll ungelesener Briefe, Zeitungen und Artikel. Denn: Je berühmter die Ärzte, desto voller das Wartezimmer und desto länger die Wartezeiten.
Als ich alles gelesen hatte, warf ich den Abfall in den Papierkorb und faltete meine Tüte nach dem »Chen-System«. »Ach bitte«, sagte eine Dame, als ich fertig war, »machen Sie das doch noch einmal. Das will ich auch können!«
Ja, und dann wollten es plötzlich alle 14 wartenden Leidensgenossen lernen, und auf einmal redeten alle miteinander und lachten über ihre Ungeschicklichkeit, oder bewunderten ein beim ersten Versuch geglücktes Kunstwerk. Als ich vor Kurzem wieder in die Praxis musste, sah ich, dass neben der Sprechstundenhilfe eine perfekt gefaltete »Chen-Tüte« lag. Es freut natürlich, wenn man sieht, wie so etwas seine Kreise zieht, doch andererseits führt einem das Beispiel auch vor Augen, wie sich akzeptierte Dinge eigendynamisch verbreiten, ob man es will oder nicht und ob man es kontrolliert oder nicht.
Merke: Immer wenn etwas auftaucht, was einem inneren Streben (einer Sehnsucht / einem Muster / einem Begehren) mehr entspricht als das Bisherige, beendet es automatisch das Vorhergegangene.
Das funktioniert mit Plastiktüten, mit Modetrends, mit Softwaresystemen, aber auch mit Diebstahltricks, mit Methoden des Drogenschmuggels und - beim Ehebruch oder Fremdgehen. »Als ich sie sah, war meine Ehe beendet«, berichtet ein berühmter Schriftsteller von der ersten Begegnung mit seiner späteren zweiten Ehefrau. Solange man das »Bessere« oder »das dem inneren Bild mehr Entsprechende« nicht kennt, ist man mit dem zufrieden, was dem Bild am nächsten kommt oder am ähnlichsten ist. Aber währenddessen sind unsere Herzen
unruhig und unsere Sinne suchen. Und meistens wissen wir gar nichts von dieser Suchaktion, merken gar nicht, wie unsere Sehnsucht Signale ausschickt und nach Hilfe und Erfüllung ruft.
Signale können auch unterdrückt oder sogar ganz vernichtet werden, und zwar durch Gewöhnung, Kapitulation und Bequemlichkeit. Dieses Sich-Ergeben in das Bestehende hat nichts mit dem Zustand der Zufriedenheit zu tun, der, wenn er positiv, also ohne Frustration erreicht wurde, eine wunderbare Form des Loslassens sein kann. Sich hängen zu lassen ist dagegen eine Aufforderung an die Schicksalskräfte, wirksam zu werden. Und das tun sie dann auch mithilfe der unglaublichsten Inszenierungen, die darauf abzielen, dass man dort getroffen wird, wo es am meisten weh tut oder wo man voraussichtlich am schnellsten reagiert. Ob jemand sich hängen lässt oder nicht, erkennt man vor allem an seinem Umgang mit den Gewohnheiten, die sich gern als persönliche Rituale etablieren. Je mehr ein Leben mit diesen Ritualen vollgepackt wird, umso mehr wird es erstarren.
Manche Leute finden das erstrebenswert und fühlen sich wohl, wenn nichts, aber auch gar nichts passiert. Weder im Kopf noch in der Seele, weder im Beruf noch zu Hause. Wenn der Rasenmäher des Nachbarn zu laut ist, dann ist das die größte Aufregung wert, die noch herzustellen ist. Daraus entstehen dann Gerichtsprozesse, in die Nervenkräfte und die ganze Gedankenwelt investiert werden, weil die Gebiete, auf denen sie eigentlich hätten verwendet werden sollen, nie betreten wurden.
Natürlich hat dieser
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