Lass nur dein Herz entscheiden
Es würde jedoch alles sehr erleichtern, wenn wir uns darauf einigen könnten, die Scheidung freundschaftlich über die Bühne zu bringen. Ich erlebe jeden Tag bei der Arbeit, wie es ist, wenn sich zwei Parteien vor Gericht streiten. Das ist nicht schön.“
„Du bist zu nett für ihn“, sagte Clara. „Ich an deiner Stelle würde ihm nichts schenken. Eigentlich bist du sogar zu nett, um mit mir befreundet zu sein. Aber ich bin trotzdem froh, dass du es bist. Ich unterhalte mich fünf Minuten mit ihm, damit du dich schick machen kannst.“ Clara ging zur Tür.
„Nein, nicht!“
Ihre Worte stießen auf taube Ohren. Schon hatte Clara die Tür hinter sich geschlossen. Auch das noch. Rasch zog Miriam den Pyjama aus und eine Jeans und ein T-Shirt an. Das war ihr übliches Freizeit-Outfit. Sie dachte ja gar nicht daran, sich für Jay aufzustylen. Nachdem sie sich flüchtig gekämmt hatte, konnte sie dann doch nicht widerstehen. Sie musste sich einfach im Spiegel betrachten.
Ungeschminkt sah sie mit ihren Sommersprossen wie sechzehn aus. Ihre schlanke Figur, die großen Augen und der treuherzige Blick vervollständigten das Bild der naiven Unschuld vom Lande. Verärgert seufzte Miriam. Sie war himmelweit entfernt von den eleganten, verführerischen Beautys, die Jays Welt bevölkerten, und hatte nichts an sich, was einen Mann reizte und verrückt machte. Nicht einmal eine persönliche Eigenart wie Clara.
Forschend suchte Miriam nach dem, was überhaupt anziehend auf Jay gewirkt hatte. Nach einem Moment gestand sie sich ihre Niederlage ein. Es war ihr noch genauso rätselhaft wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Sie wandte sich vom Spiegel ab und blieb wie angewurzelt stehen.
Gestern Abend hatte Jay ihr vorgeworfen, ihm niemals vertraut und nur darauf gewartet zu haben, dass er sie betrog – so wie ihr Vater ihre Mutter betrogen hatte. Stimmte das? Nein, das konnte sich Miriam nicht vorstellen. Sie hatte Jay doch geliebt.
Liebe war nicht Vertrauen. Man konnte einen Menschen lieben, ohne ihm zu vertrauen. Um das zu wissen, brauchte sich Miriam nur ihre Mutter anzuschauen. Kurz nachdem Anne mit George zusammengekommen war, hatte sie Miriam anvertraut, dass diese Beziehung völlig anders war als die zu Miriams Vater. „Erst als ich George kennengelernt habe, ist mir klar geworden, dass ich deinem Vater schon vor unserer Hochzeit nicht vertraut habe. Er sah so gut aus und war so charismatisch. Menschen wurden von ihm angezogen wie Motten vom Licht, besonders die Frauen“, hatte Anne ohne jede Bitterkeit gesagt. „Sie haben sich ihm an den Hals geworfen. Er war einfach einer von diesen Männern. Es war nicht seine Schuld.“
Habe ich darauf gewartet, dass sich die Geschichte wiederholt?, fragte sich Miriam deprimiert. Nein, bestimmt nicht. Jay verdrehte alles. Aber der Gedanke ließ sie nicht los, während sie zur Tür ging und sie öffnete, um Jay nach oben zu rufen.
Nur dass er nicht mit Clara unten war. Mit zusammengekniffenen Augen, die Hände in den Hosentaschen, lehnte er an der Wand gegenüber der Tür. Durch die schwarze Lederjacke und die schwarzen Jeans wirkte seine männliche Ausstrahlung fast ein wenig einschüchternd.
Bei seinem Anblick schlug Miriams Herz schneller. „Ich … ich dachte, du unterhältst dich mit Clara.“
„Der Pitbull?“, erwiderte Jay freundlich. „Ich habe keinen Sinn darin gesehen, das Gespräch zu verlängern, denn sie wollte mir eindeutig die Kehle durchbeißen.“
„Clara ist eine sehr gute Freundin“, verteidigte Miriam sie.
„Das haben manche Leute sicher auch von Attila dem Hunnen und Iwan dem Schrecklichen gesagt, trotzdem hätte ich kein Interesse daran gehabt, die beiden kennenzulernen. Möchtest du mich nicht hereinbitten?“
„Natürlich.“ Miriam trat beiseite, sodass Jay an ihr vorbei konnte, dann schloss sie die Tür und beobachtete, wie er sich in ihrem Einzimmerapartment umsah.
„Gemütlich.“
Es hätte herablassend klingen können. Obwohl Miriam gern etwas an ihm auszusetzen gehabt hätte, wusste sie, dass er es ehrlich meinte. „Das finde ich auch.“
„Ein kleines Nest mit Vogelperspektive.“ Jay ging zum Fenster und blickte auf die von der Morgensonne gefärbten Dächer. „Wie oft sitzt du hier und verlierst dich in der Weite des Himmels?“
Jay kannte sie zu gut. „Wenn es meine Zeit erlaubt.“
„Ich rieche Kaffee“, gab er ihr einen Wink. Er drehte sich um, zog die Lederjacke aus und warf sie über die Sofalehne. Sein
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