Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lass sie bluten

Lass sie bluten

Titel: Lass sie bluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
Vom Netzwerk:
mitnehmen konnte. Er wollte so oft wie möglich in der Anstalt präsent sein.
    JW hielt sich noch stärker von allem fern als vor dem Konflikt. Saß hauptsächlich in seiner Zelle. Zum Mittagessen ging er gemeinsam mit dem jüngeren Typen, Charlie Nowak, der die ganze Zeit in seiner Nähe war. Aber die Stimmung war anders als zuvor. Charlie Nowak versuchte das Kommando über die Situation zu erlangen. Den Leibwächter für JW zu spielen, die Dinge zu steuern. Doch ohne das Rohr und Narren-Tim fehlten die treibenden Kräfte, die entscheidenden Namen.
    Die Furcht vor weiteren Angriffen lag in der Luft, auch wenn es sich keiner anmerken lassen wollte.
    Abends ersann Hägerström mögliche Dialoge. Erstellte alternative Manuskripte. Versuchte herauszufinden, in welchen Bahnen JW dachte. Sie wussten ja, dass er sich früher den Aufseher Christer Stare zunutze gemacht hatte. Die Frage lautete lediglich, in welcher Form?
    Bald würde Hägerström es in Erfahrung bringen. Hoffentlich.
     
    Er erlebte ein weiteres Wochenende zusammen mit Pravat. Sie aßen gemeinsam bei Oma Lottie zu Mittag. Es gab selbstgemachte Köttbullar mit Makkaroni für Pravat und Kalbsfilet mit Kartoffelspalten für Martin und Lottie. Sie saßen im Esszimmer. Auf dem Tisch lag ein kariertes Wachstuch. Pravat hatte eine Stoffserviette auf seinen schmalen Oberschenkeln liegen.
    Seine Oma zeigte auf das Wachstuch. »Das habe ich gestern für den kleinen Mann gekauft.«
    Hägerström musste lachen. »Hast du das wirklich nur für Pravat gekauft?«
    Lottie legte ihr Besteck zur Seite und wischte sich vorsichtig den Mund mit der Stoffserviette ab. Martin sah ihr an, dass jetzt irgendetwas kommen würde.
    »Du hast ja gar keine Haare mehr auf dem Kopf, wie kommt’s?«
    Martin hatte sich vor ein paar Wochen den Schädel rasiert. Soweit er sich erinnern konnte, hatte noch keiner aus seiner Verwandtschaft jemals diesen Look getragen.
    »Es ist pflegeleichter so.«
    Seine Mutter schaute ihn an. Wechselte das Thema. »Martin, warum bist du eigentlich so selten hergekommen, als Papa noch lebte?«
    Die Frage kam ein wenig überraschend. Martin Hägerströms Mutter lebte normalerweise nach einer goldenen Regel: innerhalb der Familie niemals irgendwelche unangenehmen Diskussionen vom Zaun zu brechen. Früher hatte sie viele Verhaltensweisen seines Vaters toleriert. Mehrere Tage in der Woche Arbeitszeiten rund um die Uhr, üble Wutausbrüche und möglicherweise auch außereheliche Affären. Aber sie trug es nicht öffentlich aus. Er hatte nie mitbekommen, dass sie mit seinem Vater gestritten hätte. Nur über ihre Leiche würden durch Lottie Hägerströms Zutun dunkle Wolken einen Schatten auf die Familie werfen.
    Unangenehme Fragen gehörten nach der Auffassung seiner Mutter eigentlich nicht in die Familie Hägerström. Doch das, was sie eben geäußert hatte, war etwas anderes. Vielleicht lag es daran, dass sein Vater nicht mehr da war. Dass sie mit ihm allein war.
    Martin wusste nicht, was er antworten sollte. Er musste ihr wohl sagen, wie es war. Wie anstrengend es gewesen war, nach seiner Scheidung von Pravats Mutter seinem Vater zu begegnen. Wie eigenartig er ihn immer angeschaut hatte.
    Ehescheidungen kamen bei den Freunden seiner Mutter und seines Vaters praktisch nicht vor. Hägerström wusste, dass irgendjemand von Carls Freunden sich hatte scheiden lassen, aber im Augenblick kam er nicht drauf, wer. Zugleich musste seine Mutter aber eigentlich verstehen, dass er sich ohne Anna besser fühlte. Ohne Pravat allerdings nicht.
    Hägerströms und Annas Leben waren so stark von dem Projekt ausgefüllt gewesen, ein Kind zu adoptieren, dass sie ganz aus den Augen verloren, wie wenig sie ansonsten gemeinsam hatten. Und ihr Sexleben war geradezu ein Witz. Aber das war es an und für sich bereits von Anfang an gewesen.
    Aber jetzt darüber zu reden – vor Pravat – es war nicht möglich.
    An den Wänden im Esszimmer hingen einige der schönsten Gemälde aus der Sammlung seines Vaters. Ein Miró und ein Paul Klee. Letztgenanntes stellte mehrere Viadukte dar, die begonnen hatten, sich zu bewegen. Sie marschierten, zogen vorwärts, farbenfroh und mit langen Beinen. Bauwerke, die sich bewegten – ein bizarrer Protest. Der Aufruhr der Brücken, die Revolte der stattlichen Viadukte. Vielleicht fühlte sich seine Mutter in diesem Augenblick genauso. Wie ein Bauwerk, das sein ganzes Leben lang stillgestanden hatte, unerschütterlich auf seinen Betonfundamenten – das

Weitere Kostenlose Bücher