Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
eine Kleinstädterin wie mich ungekannten Variationen. Bei jedem Besuch probiere ich im Rahmen meiner Berliner Geschmeidigkeitsinitiative etwas anderes aus: Espresso, Americano, portugiesischen Galão, Cortado oder einen knallsüßen Bombón, einen starken Espresso mit Kondensmilch. In der Vitrine warten leckere Törtchen und Kekse, und auf einem Tisch liegen unzerfledderte Tageszeitungen und ein paar People-Magazine. Es gibt keine Kinderstühle oder Malbücher hier, und es liegt ein Zauber auf dieser Kaffeeschenke, der Menschen umfängt, die der Ruhe und Gelassenheit bedürfen.
Diese Ruhe jedoch wird heute empfindlich gestört. Als ich draußen auf der hellblauen Bank einen Galão schlürfe und lebenswichtige Nachrichten aus europäischen Königshäusern lese, nähern sich meinem gemütlichen Ausguck drei Menschen auf drei verschieden großen Fahrrädern. Mutter, Vater, Kind, was sonst. Schon von Weitem gellt ein Ruf durch die Straße. Aus voller Kehle jault das Kind: »Ich bin so müüüüüüüde! Ich kahann nicht meher! Ich bin so müüüüüüüüüde! Wann sind wir daha?« Im Gegensatz zu ihrem Gejaule tritt sie recht kräftig in die Pedale – es handelt sich offenbar um eine Art Psychofolter. Und tatsächlich, im Näherkommen sehe ich, dass der vorneweg fahrende Vater kurz vorm Explodieren ist. Direkt vor mir, vor meinem Zaubercafé, bremst er plötzlich scharf und spricht zu der kleinen Clownsfrau: »Ja, Malika, ich hab dich sehr gut gehört. Wenn du so müde bist, fahren wir jetzt nicht zum Spielplatz, sondern nach Hause und du gehst dann sofort ab ins Bett.«
Er hat noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als unter großem Geschepper das Fahrrad seiner Tochter aufs Pflaster kracht. Sie ist zwar zu schwach, um bis nach Hause zu strampeln, aber nicht zu schwach dafür, ihr Zweirad aufs Trottoir zu schmettern, direkt daneben auf dem Gehweg zusammenzubrechen und dabei eine Lärminstallation im öffentlichen Raum zu errichten, sodass sich auf hundert Straßenmetern alle Köpfe wenden. Eins ist klar: Wenn dieses Kind so weiter schreit und sich auf dem Pflaster windet, wird irgendjemand den Notarzt rufen müssen.
Die Eltern der kleinen Darstellerin stehen vor ihrer Tochter, sie halten sich an ihren Fahrradlenkern fest und sind sichtlich uneins darüber, was nun von ihnen erwartet wird. Das Kind kreischt und zappelt, es trotzt und schnappt, bis der Vater die nächste Eskalationsstufe auslöst. »Ich gehe jetzt nach Hause, Malika«, sagt er mit nicht eben fester Stimme, »du kannst ja nachkommen.« Er schiebt sein Fahrrad todesmutig zwei Meter weiter. Nun verliert Malika den letzten Rest an Beherrschung, sie schnappt nach Luft und richtet sich halb auf, streckt die Arme der stumm dabeistehenden Mutter entgegen und wimmert heiser: »Nihihicht alleiheine lassen! Bitte nihicht!« Die Mama nähert sich dem Kind auf einen Meter Sicherheitsabstand, beugt sich leicht herab und stellt die Todesfrage: »Bist du dann auch wieder lieb?«
Es ist dies der Moment, in dem ich gern wie eine Alterspräsidentin in die Mitte dieser drei Streithähne treten würde, um zu sagen: »Alle mal Klappe halten und herhören jetzt. Auch du, tobendes Kind! Die Antwort lautet: Vergesst es! Malika wird nicht wieder lieb sein, der Tag ist gelaufen, findet euch damit ab. Trollt euch und lasst mich in Ruhe meinen Kaffee austrinken! Man wird ja ganz rammdösig von dem Geschrei hier.«
Aber da ich die Gesetze des urbanen Miteinanders befolge und mich genau wie alle anderen hier natürlich nicht einmische, geht das Getöse jetzt weiter. Papa ist sauer bis in die Steinzeit, Mama packt ihre Umhängetasche nach hinten auf den Rücken, damit die kleine Brüllprinzessin sich unter Schluchzen an ihren Bauch lehnen kann. Papa und Mama wechseln genervte und hilflose Blicke, zwischen ihnen torkelt das erschöpfte Kind. Als Papa sich irgendwann hinhockt und in leisem, aber bestimmtem Ton auf Malika einzureden beginnt, ist es Zeit für mich, zu zahlen und zu gehen. Es fallen Wörter wie Fairness, Zeit, es-geht-nicht-immer-nur-nach-dir, das-schöne-Fahrrad und können-wir-eben-nicht-mehr-mit-dir …
Ich weiß, das ist alles gut gemeint. Gut gemeint, aber völlig sinnlos. Denn in den nächsten Jahren wird Malika weiterschreien, wenn ihr was nicht passt. Und ihr Vater wird wieder und wieder diese leere Drohung ausstoßen, sie hier und jetzt stehenzulassen, um schon mal nach Hause zu fahren. Es wird furchtbare Szenen geben – mal mit Beobachtern wie hier vor dem
Weitere Kostenlose Bücher