Lasst die Spiele beginnen: Roman (German Edition)
Spiele, die 1960 stattfinden sollten.
Die italienische Regierung investierte circa hundert Milliarden Lire, um der Welt zu zeigen, dass auch Italien zum exklusiven Klub der reichsten Länder gehörte.
Um sich gebührend auf das Ereignis vorzubereiten, verwandelte sich die Ewige Stadt in eine einzige Baustelle. Neue Straßen wurden gebaut und ein olympisches Dorf errichtet, um die Sportler aus aller Welt unterzubringen. Zwischen Villa Gloria und dem Tiberufer entstand ein großer moderner Wohnkomplex im Grünen, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Außerdem zwei neue Sportanlagen. Das Olympiastadion wurde ausgebaut und auf ein Fassungsvermögen von bis zu fünfundsechzigtausend Zuschauern aufgestockt. Hinzu kamen neue Schwimmhallen, Radsportbahnen, Hockeyplätze. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die Wettkämpfe in ganz Europa live im Fernsehen übertragen.
In aller Welt war man begeistert von der Schönheit der römischen Sportstätten: In den Caracalla-Thermen fanden die Turnwettbewerbe statt, in der Maxentius-Basilika die Ringkämpfe, während die Marathonstrecke am Kapitol begann, über die Via Appia Antica führte und am Konstantinsbogen endete. Speziell beim Marathon geschah etwas Sensationelles. Der kleine Abebe Bikila aus Äthiopien, Mitglied der kaiserlichen Palastwache, lief barfuß und gewann. Als er durchs Ziel lief, hatte er einen neuen Weltrekord aufgestellt.
Im Medaillenspiegel errang Italien mit sagenhaften sechsunddreißig Medaillen den dritten Platz, hinter der Sowjetunion und den Amerikanern.
Das alles ist hinlänglich bekannt. Weitgehend unbekannt hingegen sind jene Vorkommnisse um eine Gruppe sowjetischer Sportler, die sich in der Nacht nach der Abschlussfeier ereigneten.
Für die Sowjetunion war es erst die dritte Teilnahme an Olympischen Spielen. Zum ersten Mal waren sowjetische Sportler 1952 in Helsinki dabei gewesen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Führung der Kommunistischen Partei stets die Devise ausgegeben, die Spiele seien nur » ein Mittel, die Werktätigen vom Klassenkampf abzulenken und für neue imperialistische Kriege zu trainieren «. In Wahrheit jedoch verbarg sich hinter dieser ablehnenden Haltung nur die Absicht des Kremls, die Teilnahme so lange hinauszuzögern, bis die Sowjetunion in der Lage wäre, auch im Sport eine führende Rolle zu übernehmen. Denn angesichts der Pattsituation im Kalten Krieg entwickelten sich die Olympischen Spiele für die beiden Supermächte spätestens seit Helsinki 1952 zum idealen Schauplatz, um ihre jeweilige Stärke zu demonstrieren. Auf einer Seite stand die Sowjetunion, die auf eiserne Disziplin und naturwissenschaftliche Forschung setzte, um das Leistungspotenzial ihrer Athleten stetig zu erhöhen, was zu Mutmaßungen und Verdächtigungen Anlass gab, auch Medikamente würden zur Leistungssteigerung eingesetzt. Auf der anderen die Vereinigten Staaten, Sieger aller Olympischen Spiele seit 1896, deren Stärke darin bestand, dass sie aus einem schier unerschöpflichen Reservoir von Sportlern an Colleges und Universitäten die Besten auswählen konnten.
Nach einer vernichtenden Niederlage in Helsinki und dem knappen Sieg in Melbourne trat die Sowjetunion in Rom mit der Absicht an, die Überlegenheit des kommunistischen Systems endgültig unter Beweis zu stellen.
Die sowjetische Delegation wurde streng abgeschirmt und in separaten Unterkünften untergebracht. Jeder Kontakt mit Sportlern aus anderen Ländern, die als Symbol des korrupten westlichen Kapitalismus galten, wurde strikt unterbunden. Rund um die Uhr wurden die sowjetischen Athleten von Parteifunktionären überwacht.
Zum sowjetischen Olympiakader gehörten auch Arkadi und Ludmilla Brusilov. Er war Speerwerfer, sie Kunstturnerin. 1958 hatten sie in Kutuko, einem Dorf bei Moskau, geheiratet. Beide träumten davon, die Sowjetunion zu verlassen und in den Westen zu gehen. Sie hassten das autoritäre sowjetische System und wollten ihre Kinder in Freiheit zur Welt bringen. Aber das war nur ein schöner Traum, denn niemand durfte das Land verlassen. Und Sportler erst recht nicht, denn sie galten als offizielle Botschafter der sowjetischen Ideologie und Macht in der Welt.
Deshalb planten die beiden, die Olympischen Spiele zu nutzen, um sich abzusetzen und im Westen Zuflucht zu suchen. Allerdings verplapperte sich Ludmilla einen Tag nach dem Gewinn der Silbermedaille und verriet ihrer Zimmergenossin, der Stabhochspringerin Irina Kalina, unfreiwillig die Fluchtpläne.
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