Lasst die Spiele beginnen: Roman (German Edition)
Sobald sie davon erfuhr, bat Irina darum, mitgenommen zu werden. Da erklärten sie ihr lang und breit, wie gefährlich die Sache sei und dass diese Entscheidung ihr ganzes weiteres Leben bestimmen werde. Der KGB werde ihnen keine Ruhe lassen. Sie müssten untertauchen und an einem geheimen Ort in völliger Illegalität leben.
» Macht nichts … Ich bin zu allem bereit « , sagte Irina, deren Großvater in Sibirien im Gulag umgekommen war.
Langsam machte das Geheimnis unter den Athleten die Runde. Schließlich taten sich zweiundzwanzig Männer und Frauen zusammen, um die Flucht vorzubereiten.
Je mehr Wettbewerbe absolviert wurden, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass die sowjetischen Sportler die meisten Medaillen abräumen würden. Folglich hätte man zum Schluss, das stand außer Frage, Grund zum Feiern und würde darauf anstoßen, dass man zum zweiten Mal – und diesmal noch vernichtender – die amerikanischen Imperialisten geschlagen hatte.
Und genauso kam es. Die Delegationsleitung organisierte ein Abendessen für die gesamte Mannschaft, man tafelte mit russischem Salat, gekochtem Karpfen, Backkartoffeln und Zwiebelgemüse und begoss das Ganze mit literweise Wodka. Schon um neun Uhr abends waren Organisatoren, Trainer, Sportler und Parteifunktionäre sturzbetrunken. Einige sangen, andere trugen Gedichte vor, wieder andere spielten Tanzmusik auf dem Klavier. Auf den ersten Blick wirkte die Stimmung ausgelassen, doch über allem lag eine schreckliche Wehmut.
Statt Wodka hatten die zweiundzwanzig Dissidenten nur Wasser getrunken. Auf ein verabredetes Zeichen von Arkadi versammelte sich die gesamte Gruppe im Garten des Pavillons. Die beiden Wachen lagen schlafend auf einer Bank. Im Schutz der Nacht war es für die Sportler ein Kinderspiel, über den Zaun zu steigen und zu fliehen.
Schnell rannten sie am Tiber entlang bis zur Sportanlage Acqua Acetosa, erklommen, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben, den Stadtteil Parioli und fanden sich plötzlich vor einem großen bewaldeten Hügel wieder. Sie wussten es nicht, aber das war der Forte Antenne, der letzte Ausläufer eines großen Parks namens Villa Ada.
Sie betraten den Park, und von da an verlor sich jede Spur von ihnen.
Natürlich stritten die sowjetischen Behörden alles ab. Schließlich konnten sie vor der Weltöffentlichkeit nicht zugeben, dass einige ihrer ruhmreichsten Athleten geflohen waren und sich damit von ihrem Land und vom Kommunismus losgesagt hatten. Um die Verräter aufzuspüren und für ihre Untat zur Rechenschaft zu ziehen, hetzte man ihnen die Geheimdienste auf den Hals. Jahrelang fahndeten Agenten in aller Welt nach ihnen. Doch ohne Erfolg. Sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst, als hätte ihnen irgendein westliches Land geholfen, spurlos zu verschwinden.
Unter der Villa Ada erstrecken sich, wie wir bereits erwähnt haben, die antiken Priscilla-Katakomben. Mehr als vierzehn Kilometer in den Tuffstein gehauene Gänge und Grabnischen, in denen sich auf drei Etagen die Überreste der antiken Christen stapeln. Benannt wurde die unterirdische Totenstadt nach Priscilla, einer wohlhabenden Römerin aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts nach Christus. Sie schenkte das Gelände den Christen, die dort einen unterirdischen Friedhof anlegten.
In diesem weitverzweigten Labyrinth tauchten Arkadi und die Dissidententruppe unter. Nachdem sie die Nekropole von oben bis unten erforscht hatten, richteten sie sich auf dem untersten Stockwerk ein, mehr als fünfzig Meter unter der Erde. Dieser Bereich, kühl im Sommer und warm im Winter, war irgendwann einmal erforscht und kartiert, dann für das Publikum geschlossen und schließlich vergessen worden. Für Touristen war nur ein kleiner Teil des obersten Stockwerks zugänglich, direkt vor dem Kloster der Benediktinerinnen.
Nur nachts, wenn der Park geschlossen war, verließen die Russen die Tunnel, um draußen nach Essbarem zu suchen. Ihre Ernährung bestand im Wesentlichen aus dem, was die Römer tagsüber wegwarfen: Reste von belegten Brötchen, Omeletts, Kartoffelchips, Snacks, Schokoriegel, die Neige von Coca-Cola-Dosen. Im Wesentlichen basierte ihre Wirtschaft auf dem Sammeln von Abfällen und hatte, in gewisser Weise, Ähnlichkeit mit den Sammlergesellschaften der Altsteinzeit. Als Kleidung dienten ihnen Trainingsanzüge, Fleecejacken und Mützen, die von zerstreuten Parkbesuchern auf Wiesen oder an Trimm-dich-Pfaden liegen gelassen
Weitere Kostenlose Bücher