- Lasst die Toten ruhen
Lippen hatten einen halbschmerzlichen, halbwilden Ausdruck von Dürsten und Verlangen.
Gleich darauf lächelte sie und fing eine spöttische Rede an über gewisse junge Damen, die sie kennengelernt und die ihren Freundinnen beständig Bulletins über die Zustände ihrer zärtlichen Herzen zu hören gaben.
All diese Vertraulichkeiten waren weit entfernt, mich eitel zu machen und kühne Hoffnungen in mir zu wecken.
Ich verbrachte aber fast einen Abend wie den anderen in der Gesellschaft der beiden Damen, teils, solange der Karneval dauerte, bei öffentlichen Festen, wo ich nun bereits für den unzertrennlichen Kavalier und begünstigten Bewerber galt, teils an ihrem behaglichen Teetisch als einziger Hausfreund männlichen Geschlechts. Nur dann und wann fand sich eine ältere Dame, eine österreichische Bekannte der Mutter, dazu, und es wurde ein kleiner Tarock [79] gespielt, bei dem Abigail die Zuschauerin machte. Sie verhehlte ihre Langeweile nicht, wie sie überhaupt mit keiner ihrer Empfindungen je zurückhielt. Und doch bleib ein rätselhafter dunkler Grund in ihrem Wesen, der zuweilen in unbewachten Stunden durchblickte und mich jedes Mal mit einem leisen, unheimlichen Frösteln überschauerte.
Ich war im Verlauf der Wochen und Monate so offenherzig gegen sie geworden, dass ich selbst dieses nicht gerade schmeichelhafte Gefühl dem verwöhnten Mädchen nicht verhehlte.
Sie sah ruhig und mit unbeweglichen Augen über mich hinweg.
›Ich weiß, was Sie meinen‹, sagte sie. ›Es ist etwas in mir, wovor ich mich selbst fürchte, und kann es doch nicht näher bezeichnen. Vielleicht die Ahnung, dass ich nie erfahren werde, was Glück ist, freilich auch anderen kein Glück zu bringen bestimmt bin, ohne eigene Schuld, und dass mein innerstes Wesen sich dann empört und auf irgendetwas sinnt, um sich für diese Zurücksetzung zu rächen. Wissen Sie, wie ich mir vorkomme? Wie ein Eiszapfen, der eine Flamme lustig flackern sieht und sich schämt, so starr und kalt zu bleiben, und nun näher heranrückt und dabei nichts weiter erreicht, als dass er langsam abschmilzt; wenn aber die letzte eisige Starrheit geschwunden ist, wird er selbst nicht mehr vorhanden sein. Das Gleichnis hinkt auf beiden Füssen, ich weiß es wohl, aber es ist doch etwas daran, und Sie wissen vielleicht auch, was mit der Flamme gemeint ist.‹
Es war das erste Mal, dass sie auf meine längst nicht mehr verborgene Neigung anspielte, freilich unbarmherzig genug, da sie mir jede Hoffnung abschnitt. Wer weiß aber, wohin das Gespräch mich geführt hätte, wenn die Mutter nicht dazugekommen wäre.
Und freilich hinkte das Gleichnis. Denn auch die Flamme brannte nicht so lustig, wie ein rechtschaffenes Liebesfeuer soll, sondern hatte wunderliche Anfälle von Kühle und Versuchungen völligen Erlöschens.
So recht ins Lodern geriet sie nur, wenn ich mit dem wundersamen Mädchen unter vier Augen war oder im lichterhellen Saal ihre ganze Schönheit an mir vorüberschwebte. War sie in meinen Augen entrückt, so kam sie mir durchaus nicht aus dem Sinn, ja ich musste nun erst recht an sie denken, dann aber stets mit einer rätselhaften Abneigung, obwohl ich ihr nichts Bestimmtes vorwerfen konnte. War’s eine Sünde, mich nicht zu lieben oder von der Liebe überhaupt noch keinen Hauch gespürt zu haben? Und jener dunkle Grund, der ihr selbst unheimlich war, konnte er sich nicht eines Tages als ein ganz unschuldiger Hintergrund erweisen, auf welchem allerlei lichte Freuden sich desto farbiger und reizender ausnahmen? Und dennoch, die Tatsache stand fest: Ich wünschte, ich hätte das schöne Mädchen nie kennengelernt, das mich doch immer von Neuem zu sich hinzwang und, wenn ich in der Nähe war, meine Sinne in einen magischen Aufruhr brachte. Nur einmal meinen Mund auf diese durstigen Lippen zu drücken, nur einmal von diesen weichen, schlanken Armen umfangen zu werden – ich bildete mir ein, damit würde der Zauber gebrochen und ich mir selbst zurückgegeben werden.
Die Mutter sah mich kommen und gehen, ohne sich über mein Verhältnis zu ihrem Kinde besondere Gedanken zu machen. Dass ich verliebt war, fand sie nur in der Ordnung, aber ganz ungefährlich bei der Sinnesart des Mädchens, die sie nur zu gut kannte und nicht zu bekämpfen suchte, da sie ihrem bei aller äußerlichen Frömmigkeit weltlich spekulierenden Geist sehr erwünscht war. Sie wollte höher hinaus mit ihrer gefeierten Tochter, als ein schlichter Oberleutnant es ihr bieten konnte,
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