- Lasst die Toten ruhen
mir, den Rest meiner Ferien in einer kühleren Gegend zuzubringen, mit aller Vorsicht freilich, um nicht wieder einen Rückfall heraufzubeschwören.
Nun hatte ich in B. einen Jugendfreund, mit dem ich seit dem Frieden nicht wieder zusammengekommen war. Nach dem Kriege, den er als Regimentsarzt gerade in meiner Kompanie mitgemacht, hatte er in dieser seiner Vaterstadt die Leitung des Krankenhauses übernommen, sich verheiratet und nur durch die Zusendung der Geburtsanzeigen seiner fünf oder sechs Kinder die Fäden unserer alten Freundschaft fortgesponnen.
Um so wohltuender war mir’s, dass ich ihn jetzt unvorbereitet überfiel, den guten Kameraden ganz so herzlich gesinnt wiederzufinden wie damals, als ich von ihm Abschied nahm, um nach meinem Wundbette in Mainz evakuiert zu werden. Ich musste zu Tische bei ihm bleiben – die einzige Zeit des Tages, neckte ihn seine liebenswürdige Frau, wo er nicht dem ersten Besten mehr gehörte als seinem eigenen Fleisch und Blut – und da ihn in den nächsten Stunden seine Stadtpraxis wieder in Anspruch nahm, verabredeten wir, dass ich ihn abends nach dem Theater in einem Weinhause, das er mir bezeichnete, erwarten sollte.
Mein einsamer Nachmittag verging rasch genug. Ich kannte zwar außer meinem Kriegskameraden keine lebende Seele in der schönen alten Stadt, die ich als Fähnrich vor langen Jahren einmal flüchtig durchwandert hatte. Aber es gab an allen Ecken und Enden so viel Merkwürdiges zu schauen, so manches reizte mich, ein paar Striche in meinem Skizzenbuch zu machen, und das Wetter war so lieblich durch ein Morgengewitter gekühlt worden, dass ich das Theater – eine sehr fragwürdige Sommerbühne – fahren ließ und die Zeit bis zu unserem Stelldichein lieber mit einem Spaziergang in der stillen Abendluft die baumreichen Flussufer entlang ausfüllte.
Ich hatte mich dabei so in meine Gedanken eingesponnen, dass ich erst an den Rückweg dachte, als es völlig Nacht geworden war. Eine Nacht freilich, in der sich’s so anmutig lustwandelte wie am Tage, denn der Mond ging fast schon mit seinem vollen Schein über den Erlenwipfeln auf und erhellte die Gegend dergestalt, dass man an den flachen Uferstellen die Kiesel durch die Wellen wie kleine Silberkugeln schimmern sehen konnte.
So auch erschien die Stadt von einem silbernen Duft umwoben, wie aus einem Märchen vor mich hingepflanzt, als ich mich ihr wieder näherte. Es schlug schon neun von der alten Domkirche, ich war müde und durstig von meinem langen Streifzuge und hatte mir die Rast in dem Weinhause, zu dem ein gefälliger Bürgersmann mich hinwies, wohl verdient. Da ich meinen Freund noch nicht vorfand, ließ ich mir etwas zu essen geben und einen Schoppen leichten Weins, mit dem ich den ersten Heißdurst löschte. Noch immer ließ der Doktor auf sich warten. Er musste nun aber jeden Augenblick kommen, und so bestellte ich im Voraus einen feurigen Rauentaler, von dem er mir bei Tische gesprochen hatte, um ihn gleich in diesem edlen Tropfen Willkommen zuzutrinken, sobald er einträte. Es war wirklich ein ›Trank voll süßer Labe‹, würdig, die Blume alter Freundschaft damit zu begießen. Doch verfehlte er seinen Zweck. Statt meines guten Kameraden erschien so gegen zehn ein Bote mit einer Karte, auf der der Freund sein Ausbleiben zu entschuldigen bat; er sei über Land gerufen worden zu einem schwerkranken Patienten und könne nicht absehen, ob er in dieser Nacht überhaupt zurückkehren würde.
So war ich auf mich selbst angewiesen und auf den Wein, der mich leider nicht heiter zu stimmen pflegte, wenn ich ihn nicht in freundlicher Gesellschaft trank. Seit ich meine Frau verloren habe, damals ging es ins dritte Jahr, überfiel mich bei der einsamen Flasche regelmäßig eine tiefe Melancholie, die geflissentlich zu nähren ich nicht mehr jung und sentimental genug war. Um ihr auch diesmal nicht zu verfallen, griff ich nach den Zeitungen, die mir zu Gebote standen, da die wenigen Stammgäste an ihren abgesonderten Tischen sich eifrig ihrer Skat- oder Schachpartie hingaben.
Was mir zunächst – auf der letzten Seite des Lokalblattes – ins Auge fiel, war die Liste der städtischen Sehenswürdigkeiten. Da ich den ganzen morgigen Tag noch zu bleiben gedachte, war mir dieser Wegweiser ganz erwünscht, und ich notierte mir einiges, was meine Neugierde reizte, in mein Taschenbuch. Da fiel mein Blick auf eine Anzeige, die meine Gedanken plötzlich in eine weit entlegene Zeit zurücklenkte: ›Jeden Montag
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