- Lasst die Toten ruhen
Nadelstiche fuhren ihm durch den Hals. Gedanken, schmerzhaft, wirbelten wie glühende Metallspäne durch seinen Kopf.
Fünf Minuten noch wollte er warten, nur fünf Minuten.
Ein stiller, irrer Triumph flammte in seiner Seele auf.
– Oh, wenn sie nicht käme, er würde sie dann loswerden.
Er fühlte es sicher.
Da zuckte er auf: ein bekannter Mensch! Er drückte sich tief in das Sofa hinein, fasste die Zeitung und verdeckte mit ihr sein Gesicht.
Aber der andere hatte ihn schon gesehen. Er kam ruhig an ihn heran und setzte sich neben ihn.
– Ihre Schwester wird wohl bald kommen, sagte er, ich habe sie heute getroffen, sie sagte mir, sie würde herkommen.
– Hat sie das gesagt?
– Ja.
Er biss vor Wut die Zähne aneinander. Griff wieder nach der Zeitung und fing an zu lesen. Aber er verstand kein Wort. Eine dumpfe kauernde Ohnmacht legte sich mit dicker Kruste um sein Herz. Er fühlte es sich an der Rinde wund schürfen.
So saßen sie wohl eine Stunde.
Endlich sprang er auf.
– Warten Sie nur auf meine Schwester. Ich muss jetzt gehen.
– Müssen Sie wirklich gehen?
Er trat taumelnd auf die Straße.
Er konnte kaum gehen. Die wilde Wut gegen das Weib machte sein Blut stocken. Er war nahe am Weinen. Seine Kräfte verließen ihn zusehends. Es würgte ihn, als schluckte er brandigen Qualm.
Er setzte langsam einen Fuß vor den andern. Jeder Schritt tat ihm weh im Gehirn: Würde er schneller gehen, müssten alle Adern reißen.
Das Bewusstsein fing an, ihn zu verlassen.
Er wiederholte sinnlos einzelne Sätze, faselte vor sich hin, lachte still und rieb sich die Hände.
Und wieder flammte der stille Triumph in ihm auf: Er brauchte sie nicht zu sehen. Er war befreit, erlöst von seinem Vampir.
Er lächelte.
Da blieb er plötzlich stehen: Sein Herz krampfte sich heftig zusammen: In der Ferne sah er ein schwarzes, seidenes Kleid knistern … Nein!, es war nicht Agaj.
Die Unruhe bäumte sich in ihm hoch auf. Unruhe und würgende Sehnsucht.
Nein, nein – er musste nach Hause gehen. Sich ins Bett legen. Er war ja todkrank.
Die Sonne schien ihm stechend in die Augen. Er fühlte die scharfen Strahlenstöße sich gellend ihm in die Nerven keilen. Es schwindelte ihn: Er setzte sich auf eine Bank.
Ekelhaft, mitten auf der Straße ohnmächtig zu werden!, fuhr es ihm plötzlich durch’s Gehirn. Die Vorstellung von einem Auflauf, einer Tragbahre rüttelte ihn mit einem Male auf.
Er strengte sich an, die Menschen, die wie Schatten an ihm vorüberglitten, zu sehen, deutlich zu sehen, sie voneinander zu unterscheiden.
Da sah er plötzlich sie. Es kam ihm vor, als hätte er sie schon früher einmal vor seiner Bank auf und ab gehen gesehen.
Sie ging ruhig, grüßte freundlich nach allen Seiten und hatte rote Handschuhe an. Lange scharlachrote Handschuhe.
– Agaj!, schrie er auf.
– Nun? Was machst du hier?
Er nahm sie schweigend unter den Arm und führte sie in ein abgelegenes menschenleeres Café.
Es war Macht in ihm.
– Wenn du noch einmal –, seine Stimme erstickte in Wut, – wenn du noch einmal mir Menschen auf den Hals schickst, werd’ ich dich, werd’ ich …
Sie sah ihn lachend an.
– Was denn?
Er beruhigte sich plötzlich. Seine Macht schmolz wie Glas im Feuer. Er lächelte wieder. Da schrak es wieder in ihm auf. Eine Erinnerung fühlte er lauernd kauern, und plötzlich jäh emporschnellen:
– Hast du mir nicht gestern gesagt, dass ich dich heute erwarten sollte?
– Nein!
– Lüg’ nicht, Agaj, nicht jetzt, um Gottes willen. Ich habe eine entsetzliche Angst um mein Gehirn … Hast du, – hast du es wirklich nicht gesagt?
Sie schwieg.
– Sag’ es, sag’ – ich weiß ja nicht sicher. Alles verfließt in meiner Seele. Ich konnte nicht begreifen, warum ich dort auf dich wartete.
Sie zuckte auf.
– Ja, ich habe es gesagt.
Er atmete schwer.
– Warum hast du mich denn bestellt, wenn du nicht kommen wolltest?
– Ich will nicht mehr mit dir allein sein, sagte sie kalt.
– Nicht mehr?
– Nein!
Er sann nach und erhob sich.
– Ja, dann will ich nicht mehr mit dir zusammen sein, Agaj. Ich kann nicht mit dir zusammen sein, wenn Menschen dabei sind. Ich habe Ekel vor Menschen. Ich kann keinen Menschen außer dir sehen. Nein, Agaj, ich will es nicht.
Sie fasste ihn an der Hand. Er setzte sich wieder. Sie war ernst und traurig.
– Kannst du denn nicht zur Vernunft kommen? Verstehst du nicht, dass alles aussichtslos ist, verstehst du’s nicht?
– Warum aussichtslos?
–
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