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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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nicht mehr loswerden. Er musste sich daran gewöhnen.
    Er fing an, lange und leise vor sich hin zu stammeln.
    Er wurde plötzlich neugierig auf sein Gesicht, er machte die Augen auf: Es war verschwunden.
    Aber er fühlte es um sich. Es war da. Es füllte das ganze Zimmer. Er war wie eingehüllt in sich selbst.
    Eine unendliche Verzweiflung senkte sich ihm langsam fressend und zerstörend in die feinste Pore seines Organismus.
    Da schnellte er auf und fing an wild zu lachen. Sein Lachen kreilte [92] ihm wie ein tierisches Wiehern in den Ohren.
    – Gut, gut, ich habe nichts dagegen, durchaus nichts dagegen. Jetzt werd’ ich nie mehr einsam sein. Immer Gesellschaft, immer Gesellschaft! In meiner eigenen Gesellschaft! He, he … kann ich eine bessere bekommen?
    Mit einem Ruck wurde sein Gehirn gelähmt. Sein Bewusstsein schwand.
    Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer.
    Er sprang auf in wilder Hast. Es war schon halb zehn. Ohne eine Sekunde zu überlegen, lief er zu Agaj.
    Vor dem Hause blieb er stehen und lächelte. Er sprach sehr freundlich mit sich selbst und ging hinauf.
    Sie stand zitternd vor der Tür.
    Er sah alles mit einer übernatürlichen Deutlichkeit. Hektische Flecke glühten auf ihren Wangen: Sie waren eingefallen. Sie atmete unruhig, sie rang nach Atem. Sie stand vor ihm in einem schwarzen seidenen Ballkleide, auf den nackten Armen hatte sie lange rote Handschuhe, die über die Ellenbeuge reichten.
    – Sieh’, sieh’ mich an. Ich habe mich für dich geschmückt. Du liebst mich so, sag’ es, sag’!
    Sein Gehirn kam in einem Nu in’s Gleichgewicht. Er fraß an diesem schlanken Leib.
    – Wie schlank du bist, murmelte er leise. Wie ein Panther … wie ein glänzendes, geschmeidiges Tier … Und wie du dich bewegst! …
    – Küss’ mich hier – hier!, sie zeigte auf den nackten Arm. Du hast seit zehn Jahren meine Arme nicht nackt gesehen.
    Sie lachte hysterisch.
    – Ich gebe dir heute das Abschiedsfest. Ich reise heute Nacht weg, weit weg aufs Meer.
    – Auf’s Meer?, wiederholte er dumpf. Es kam ihm so selbstverständlich vor, dass sie aufs Meer wollte.
    – Komm, komm, setz dich! Hier ist viel, viel Wein! Wir werden trinken heute …
    Sie lachte lange, dann beugte sie sich zu ihm, legte den Kopf auf seine Brust und flüsterte leise:
    – Ich gebe auch mir das Abschiedsfest. Ich komme nie wieder zurück … Gib, gib mir deine schmalen Knabenhände, deine teuren, goldnen Hände … Oh, wie ich sie liebe! Sieh’ ich bin deine Agaj, – die Agaj, die dir wie ein Hund folgte, die sich wie eine Katze an deinem nackten Leibe rieb … Ich – ich fühle dich so deutlich hier, hier, an meinem ganzen Körper fühl’ ich dich … Und meine Seele ist so stolz … Nie sah ich einen Mann außer dir. Ich weiß nicht, wie sie aussehen. Es kamen so viele her, aber ich wusste nicht, dass sie Männer sind – das waren Hunde, Gegenstände, geschlechtslose Neutra. Nur du – du immer vor meinen Augen, immer um meinen Leib … Und sieh, meine ganze, unbefleckte Seele, sie gehört dir, immer hat sie dir gehört … Nicht eine Sekunde schlich sich dahinein der Gedanke an einen Anderen … Bist du nicht stolz auf eine solche Seele? Bist du nicht stolz auf einen solchen Besitz? Ich bin an dir emporgewachsen – in der schwülen Treibhaushitze deines Leibes, deiner Seele, deines Pulsschlags bin ich groß geworden … Ich atmete dich, ich ging wie eingewickelt in dich … Du, du … mein Blut, mein Mann du!
    Sie wühlte sich mit ihrem Kopf in seine Brust, dann lachte sie still auf.
    – Aber trink, trink doch! … Was meinst du, wenn wir uns heute ganz und gar betränken? Sie kicherte vergnügt, wie ein Kind. Erinnerst du dich, wie wir einmal bei unserem Onkel waren, und uns in seinem Weinkeller einschließen ließen? Gott war das furchtbar! Wie?
    Sie tranken sich zu und leerten die Gläser, dann nahmen sie sich an den Händen.
    – Agaj, Agaj, – ich kenne dich nicht wieder. Du bist, wie du früher warst …
    Sie starrte wie abwesend vor sich hin.
    – Du, du …, sagte sie leise. Jetzt sind wir wieder eingeschlossen in einem dumpfen Keller … Huh, wie grausig!
    Sie kicherten beide.
    – Und du – du, mein Liebling … Huh, huh, die Nacht, die Nacht! Hörst du die Eulen? Hörst du die Fledermäuse gegen die Fenster schlagen? Und die grässlichen Kröten, die im Keller herumkriechen …
    – Hu, hu, kicherte er irrsinnig.
    – Sind wir vielleicht beide wahnsinnig?, fragte sie plötzlich ängstlich … Aber das ist

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