- Lasst die Toten ruhen
jäh empor in einem schreienden Würgegesang:
De profundis …
Es war wie eine toll gewordene Qual, die die mageren, knochigen Hände aus den Gelenken emporwarf und nach Erlösung schrie.
Und plötzlich, langsam hob sich ein Weib empor in weitem, scharlachrotem Mantel, sie wuchs empor hoch über das ganze Erdenall, auf dem schmerzverzerrten Gesichte ein ödes, versteinertes Lächeln.
Und da sah er den Knäuel sich lösen, einen Strom von Menschen sah er sich rings um das Weib gießen, Menschenpaare in ekelhafter Kopulation mit verrenkten Gliedern, schmerzhaft ineinander verflochten und verwachsen. Er hörte ein tierisches Gewieher, berstend in geschlechtlicher Qual, er sah Gesichter verzückt in tollen Wolllustorgien, Leiber sah er, zerfressen von Gift, mit eklen Wunden bedeckt, und unten, ganz unten sah er sich selbst mit blutiger, zerquetschter Stirn, mit geballter Faust, zerrissen von einer Verzweiflungsagonie und schreiend, mit berstender Lunge emporschreiend …
Und aus den lechzenden, gierigen Schreien, aus dem Schmutz und Ekel der geschlechtlichen Orgie, aus all der verreckenden Qual löste sich von Neuem der wahnsinnige Schicksalsgesang von Menschen, die unwissend aufeinandergeworfen, aneinandergekettet werden, Menschen, die ineinanderwachsen und sich nicht lösen können: ein wirbelnder Sturm von Verzweiflungsschreien:
De profundis …
Er sprang aus dem Bett.
Noch klangen die letzten Töne in seinen Ohren. Sein Gehirn war wirr, vergebens versuchte er, einen Gedanken zu fassen.
So saß er lange regungslos.
Das erste Morgengrauen fraß mühselig an dem Dunkel des Zimmers.
– Aber, mein Gott, wo bleibt denn Agaj?, fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf.
Er stand auf und blieb mitten im Zimmer stehen.
Ah, Agaj hat sich sicher im Garten versteckt, hinter der alten Pappel … Sie versteckt sich immer hinter dieser Pappel.
Er kicherte und schlich leise auf den Zehen an’s Fenster.
Nun muss ich ganz leise die Verandatür aufmachen … He, he … Sie hat sich hinter dem Garten versteckt … Sie hat sich auf das Meer versteckt … Sie ist selbst das Meer … Aber ich werde sie schon finden …
Nur leise, leise … sonst entflieht sie mir …
Er kroch auf die Fensterbrüstung.
– Ich werde sie schon finden … Nur ganz leise … Oh … da … da ist sie …
Er stand im Fenster mit weit vorgestreckten Armen.
Agaj!, schrie er lachend auf.
Er stürzte in die Tiefe.
Nachbemerkung
»De profundis« spielt in der für Stanislaw Przybyszewski typischen Art mit dem Vampirmotiv. Der Protagonist ist ein genialer Künstler, der seine Schwester begehrt. Beide verachten die bürgerliche Moral, doch wo der Bruder den Inzest nicht scheut, hört die Schwester auf die Natur. Ein klareres Zeichen für Degeneration könnte Przybyszewski kaum geben. Der Unterschied zwischen Bruder und Schwester liegt in der Krankheit des Bruders begründet.
Die Schwester Agaj wird zusätzlich mit dem Vampirmotiv belegt. Würde der Bruder sie nicht gelegentlich Vampir nennen, so würde das Vampirmotiv leicht übersehen werden. Zwar gibt es mit den Schmerzen im Hals vor jedem Anfall einige Male Hinweise auf das Vampirmotiv, doch der zentrale Hinweis wird beim Abschied gegeben: Als der Protagonist gehen will, beißt Agaj ihm in den Hals. Doch der Vampirismus ist rein psychischer Natur. Agaj lebt von den Seelenqualen des Bruders. Statt einen klaren Strich zu ziehen, ermuntert sie ihn den einen Augenblick und den anderen Augenblick weist sie ihn ab. Sie verfügt nur über eine Vampirfähigkeit: Sie besitzt Macht über den Geist des Bruders. Zumindest rudimentär tritt diese bei beinahe allen älteren Vampiren auf – Brunhilde kann ihre Opfer einschläfern, Val Umbrosa täuscht die Wahrnehmung und Fürstin Tartakow beherrscht anscheinend den Geist des übermütigen Manwed. Agajs Fähigkeit ist anscheinend perfekt ausgebildet – sie zwingt den Bruder, alleine zu bleiben, und gibt ihm Visionen ein, die nicht von der Realität zu unterscheiden sind. Ihr Auftreten ist dabei wie für Psychovampire üblich völlig menschlich; ungewöhnlicherweise ist sie nicht einmal besonders schön.
Wer es sich leicht machen will, deutet die Vampirin Agaj einfach als Fieberfantasie des Protagonisten – tatsächlich spricht einiges dafür, denn sowohl die Inzestfantasie wie auch die Vampirfantasie gehen vom kranken Bruder aus, wobei sie von der Gattin bzw. dem Mädchen unterstützt werden. Agaj reagiert nur darauf. Offenkundig ist das
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